Es ist Nacht geworden. Eine Nacht, stiller als sonst. Draußen keiner mehr unterwegs, die Straßen leergefegt. Ich habe auch heute wieder unendlich viele E-Mails abgearbeitet, telefoniert, mich über den Stand der Pandemie informiert, das eine oder andere im home office ausprobiert. Trotz aller Einschränkungen bei der Arbeit spüre ich die Müdigkeit in meinen Knochen. Und die Anspannung.
Behüte mich wie einen Augapfel im Auge. Ich lasse das Wort aus der Komplet, dem Nachtgebet der Kirche (EG bad 786.9), in mir nachklingen. Ich sehe sie vor mir, in den Klöstern und Konventen. Einer beginnt: Behüte uns wie einen Augapfel im Auge. Und die Geschwister antworten: Beschirme uns unter dem Schatten deiner Flügel. Abend für Abend im Kloster Kirchberg oder in der Benediktinerabtei in Münsterschwarzach. Und vielleicht auch irgendwo ganz in meiner Nähe.
Ich will meine Augen schließen. In einer Art innerem Schauen lasse ich den Tag noch einmal Revue passieren. Einen Moment lang die Sorgen zur Seite legen. Und die, die mir lieb sind, dem Einen anvertrauen, der uns beschirmt. Auch die, die sich jetzt in dieser Nacht aufreiben: in unseren Kliniken, Seniorenzentren, Diakoniestationen, und wo noch überall gerade geholfen wird.
Was waren heute kleine kostbare Momente?
Die einsame Radlerin, die mein Lächeln erwidert hat. Der Espresso am Mittagstisch zu Hause. Ja, und dann eben dieser Vers aus den Psalmen, der mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf ging. Vom Augapfel im Auge. Umschlossen, sicher, geschützt. Verletzlich zwar, doch umgeben von Schutz. Jetzt ein wenig Schlaf finden. Die müden Augen schließen dürfen. Und mit dem Ein- und Ausatmen spüren, wie ich ruhiger werde.
Heitere Resignation. Die Erlaubnis und die behördliche Anordnung, mich zurückzuziehen, habe ich ja jetzt auch tagsüber vor Augen. In dieser Nacht lege ich mein Leben und das meiner Lieben in andere Hände. Ich will glauben: Ich bin im Leben wie angesichts der Bedrohungen des Todes umfangen von Gottes Güte – wie ein Augapfel im Auge.
Mir fällt ein, was Kurt Marti in seinen „Spätsätzen“ gesagt hat. Worte, die nicht nur am Lebensende, sondern gerade auch in Krisenzeiten zutreffen: „Erwünscht wäre im Alter wahrscheinlich: Heitere Resignation. Noch besser ist allerdings – womöglich dankbare – Bejahung unserer Vergänglichkeit. Sie ist vom Schöpfer gewollt und deshalb: Heilige Vergänglichkeit.“ (Kurt Marti, Heilige Vergänglichkeit: Spätsätze, S. 33).
Dankbare Bejahung unserer Vergänglichkeit – große Worte! Ich will sie ins Hier und Jetzt ziehen. Die Augen schließen. Tief ein- und ausatmen. Meinen Augapfel spüren, wie er im Auge ruht. Warm und sicher. Und darauf vertrauen, dass unsere Augen das Licht am Morgen wieder schauen werden. Gott, behüte uns wie einen Augapfel im Auge. Beschirme uns unter dem Schatten deiner Flügel. Amen.