Ein Mann sitzt inmitten von Trümmern, um ihn herum nur Steine. Zerstörte Hochhäuser, eingerissene Mauern, große und tiefe Lücken. Im Hintergrund irren einige Personen herum, ziellos und verloren. Der Mann sagt, dass er sein Kind und seine Frau verloren hat, sein Bruder hat seine beiden Töchter verloren … und dann stockt er, er will sie nicht alle aufzählen. Nüchtern sagt er, dass 28 Mitglieder seiner Familie umgekommen sind. Es ist ein Ort irgendwo im Gazastreifen, es ist erst wenige Tage her. Und es liegt erst wenige Wochen zurück, da war an dieser Stelle ein Markt gewesen, voller Menschen und voller Leben.
Die Bilder sind verwackelt, aber sie sind fröhlich, junge Menschen tanzen, sie wirken ausgelassen. Sie haben die Wüste in einen Ort des Lebens verwandelt. Dann kommen Männer auf Motorrädern, sie halten schwere Waffen in den Händen, sie schießen wahllos und sie zielen genau. Sie greifen zu und verschleppen Menschen. Es ist irgendwo in Israel. Eine Frau sitzt vor der Kamera und bittet um das Leben ihrer Tochter, sie ringt um Fassung.
Diese Bilder legen sich übereinander – Menschen, deren Leben zerrieben wird, die ungefragt und unschuldig zu Opfern werden. Allerdings gibt es Schuldige, es ist keine Naturkatastrophe. Es sind hemmungslose Verbrecher, skrupellose Massenmörder, brutal rauben sie den Menschen das Leben und zerstören alle Hoffnung. Wer sich mit ihnen solidarisiert, wird zum Handlager des Terrorismus.
Ich denke an all die gemeinsamen Partnerprojekte über Grenzen hinweg. Mir fällt das Buch ein, das von der zufälligen Freundschaft zwischen zwei Mädchen handelt, einer Palästinenserin und einer Israeliten – es trägt den bezeichnenden Titel „Wir beide wollen leben“.
Das Kalkül der Hamas ist perfide, seit Jahren haben sie sich vorbereitet, sie haben die Schwäche der israelischen Innenpolitik bewusst ausgenutzt. Leben zählt für sie nichts, auch das eigene nicht. Das kann nicht im Sinne ihrer Religion sein und ist es auch nicht. Es ist sicherlich kein Zufall, dass das arabische und hebräische Wort für Frieden dieselbe Wurzel hat. Die jüdisch-christliche Tradition weiß darum, dass Schalom das Geschenk Gottes an die Menschheit ist. Es ist eine großartige Gabe mit einer großen Aufgabe.
Für mich persönlich ist die tiefe Solidarität mit Israel unstrittig, aber auch die ebenso große Verbundenheit mit den Opfern, gleich auf welcher Seite. Israel wird und muss reagieren, allein schon um sich zu schützen. Wer schon einmal in diesem Land war, weiß, wie wichtig und wie schwierig das ist. Mich hat beeindruckt, wie die Menschen dort zusammenstehen – Israel ist ihr Land, aber auch ihre Verheißung.
Ich vertraue darauf, dass Schalom Grenzen überwinden kann, geographische Grenzen, aber auch die Grenzen der Zeit. Ich will versuchen bei allem, was in den nächsten Wochen noch geschieht, nicht die Hoffnung zu verlieren. Ich wünsche mir besonnene Politikerinnen und Politiker, die nicht dem Populismus folgen, sondern ihrem Gewissen. Meine Gedanken sind bei den entführten Geiseln und ihren Familien sowie bei den Angehörigen aller Opfer, bei ihrem Schmerz, ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrer Ohnmacht. Die hebräische Bibel erzählt davon, wie auch in Trümmern neues Leben entstehen kann. Ich kann es mir nicht so recht vorstellen, aber ich will darauf hoffen – der Friede Gottes ist, so heißt es, höher als alle Vernunft.
Werner Milstein, Brilon