Kind

Im vergangenen April feierten zwei Prominente einen so genannten runden Geburtstag. Papst Benedict wurde am 16. April 80 Jahre; der Autobauer Ferdinand Piëch feierte am Tag darauf seinen 70. Geburtstag. Der Papst wurde öffentlich ohne Hemmungen als „Geburtstagskind" bezeichnet; bei dem Mann der Wirtschaft zögerte jedoch mancher, ihn ein „Kind", wenn auch nur ein „Geburtstagskind", zu nennen. Zu mächtig schien dieser alte Herr, um an ihm noch „Kindliches" zu finden. Während eines Festes - gleich, aus welchem Anlass - haben wir wohl alle die Chance, wieder zu Kindern zu werden. Ich wünsche auch Herrn Piëch, dass er an seinem 70. Geburtstag ein Mensch war, der nicht nur ein einflussreicher Herr zu sein hatte.

Ein Kind zu sein - das hat jedoch nicht nur schöne Seiten. Kinder fühlen sich oft ohnmächtig dem ausgeliefert, was ihnen zugemutet wird. Manchmal möchten sie am liebsten von heute auf morgen aus ihren Kinderschuhen herauswachsen. Aber Kindertage können auch herrliche Tage sein, Tage so voller Unvoreingenommenheit, dass es uns Erwachsene sehnsüchtig macht. In ihrem Lied „Kinder" hat Bettina Wegener auf diese Kinderkraft Bezug genommen. Sie schreibt: „Sind so kleine Münder, sprechen alles aus."
Weil wir Erwachsene manchmal unseren Kindermund dringend brauchen, um leicht über die Lippen fließen zu lassen, was unser Herz an Glück oder Kummer bewegt, auch darum wünsche ich jedem erwachsenen Menschen, dass er oder sie nie den Zugang zur eigenen Kindlichkeit ganz verliert.
Dorothee Sölle wurde einmal gefragt, was sie an einem Mann besonders schätze. Das sei das Kind im Mann, hat die damals 65-Jährige geantwortet. Sie ärgerte sich also wohl nicht, wenn sich ein erwachsener Mann nicht nur rollenkonform verhielt. Sie ertrug gern auch Männer, die noch spielen und etwas unvernünftig sein können. Frau Sölle hat zu ihrer Antwort übrigens noch hinzugefügt: „Wenn man es nicht ermordet hat, das Kind."
Nicht nur die Kinder in erwachsenen Männern sind eine bedrohte Spezies. Frauen können unter dem Zwang, den Alltag am Laufen zu halten, genauso streng oder ernst werden wie Männer, bei denen alle kindliche Offenheit verschüttet scheint. Die Kinder, die wir waren, die Kinder, die wir in uns aufbewahren möchten - sie können auch zu Opfern der Gewalt werden, die wir uns selbst unter dem Druck unserer Lebensbedingungen antun.

Im religiösen Bereich gibt es allerdings noch einen Schonraum. Da kann man entdecken, dass das Kind in einem doch nicht ermordet wurde. Da haben auch die Kinder in uns Erwachsenen eine Chance. Der 14. Dalai Lama - so kommt es mir vor - hat, obwohl bereits 72 Jahre alt, immer noch etwas von der entwaffnenden Offenheit eines Kindes. Fotos gibt es, da schwätzt der alte Herr schmunzelnd mit jüngeren Mönchen. Und die strahlen. Ihr Oberhaupt hat sie zum Lachen inspiriert. In der Bibel verstehen sich die Urheber der Texte oft noch als Kinder. Dafür ist der Psalm 131 ein wunderbares Beispiel. Dort heißt es: „Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter."
Jesus lädt uns geradezu ein zur Kindlichkeit. Er zeigt seinen sich zankenden Jüngern ja ein Kind. Seinen Kommentar dazu kann man so übersetzen: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer so gering wird wie dieses Kind, wird in der Welt Gottes am größten sein."
Menschen sind nie gering. Auch Kinder sind nicht gering. Erwachsene stufen Kinder manchmal so ein. Kinder können übergangen werden. Auf sie ist man ja nicht angewiesen, mag man meinen. Kinder sind noch nicht gesellschaftlich etabliert. Das schwächt ihre Position. Das hat jedoch auch positive Seiten.
Wenn alle Welt aus Angst meint, man müsse einem unbekleideten Kaiser sein feines Outfit bestätigen, dann kann ein Kind es wagen zu sagen, dass dieser Staatschef völlig nackt daherkommt. „Herrgott, hört die Stimme der Unschuld", soll der Vater des Kindes zu dessen Worten gesagt haben, erzählt Hans Christian Andersen. In Andersens Märchen hat der Vater das Kind nicht überhört. Er hat seine Stimme vielmehr so verstärkt, bis das ganz Volk rief, was das Kind ausgeplaudert hatte.

Im religiösen Bereich haben die Kinder, die wir waren, die Kinder, die wir in uns aufbewahren, noch eine Chance. In kirchlichen Texten geraten wir oft als Erwachsene in die Position von Kindern. Dies ist besonders in den Liedern von Paul Gerhardt der Fall. Ich glaube nicht, dass Paul Gerhardt den Menschen damit ihre Fähigkeit zum verantwortlichen Handeln absprechen wollte. Er nutzt das Bild des Kindes vielmehr, um die Verfassung zu zeigen, in der sich selbst Erwachsene manchmal wieder finden. Auch Erwachsenen bleibt manchmal nichts anderes übrig, als flehentlich zu bitten: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mein verschlingen, so lass die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein." (EG 477,8)
Schutzlos wie ein Küken mögen wir uns manchmal fühlen, obwohl wir bereits einen reichen Schatz an Erfahrungen gesammelt haben. Vielleicht fühlen wir uns gerade deshalb manchmal so angewiesen auf Beistand. Denn zu unseren Erfahrungen gehört auch, dass wir nicht alles selbst in der Hand haben. Wir, die wir so viel planen und steuern, wir begriffen wohl auch, dass nicht alles machbar ist. Ein Kind zu bekommen, das zum Beispiel ist bis heute für viele Paare ein Wunsch, der durch Planung allein nicht zu verwirklichen ist.

Besonders an den Wendepunkten des Lebens beunruhigt, dass die Zukunft ungewiss ist. Sogar während der Feste zu unseren Ehren gibt es daher Augenblicke der Nachdenklichkeit, Momente, in denen uns bewusst wird, wie sehr wir selbst als Erwachsene noch Kindern gleichen. Manchmal wird dann das Wissen um unsere Grenzen so groß, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als darauf zu vertrauen, was Paul Gerhardt einst schrieb: „Denn wie von treuen Müttern in schweren Ungewittern die Kindlein hier auf Erden mit Fleiß bewahret werden, also ... lässt Gott uns, seine Kinder, wenn Not und Trübsal blitzen, in seinem Schoße sitzen." (EG 58)
Nicht immer werden die Kindlein hier auf Erden mit Fleiß vor Gewalt und Leid beschützt. Gott mag uns auch wie eine schwierige Mutter vorkommen. Eine Übermutter ist er jedenfalls nicht.

Gott klammert nicht. Er ermöglicht den Küken, flügge zu werden. Flüge entwickeln sich nicht immer zu glücklichen Höhenflügen. Die flügge sind, können auch Krisen mit hohen Risiken durchfliegen. Sie können sich gefährdet, einsam und ausgestoßen vorkommen.
Von solchen Erfahrungen wussten bereits die biblischen Dichter. Und sie wussten davon, dass man aus Todesgefahr errettet werden kann. Der Psalm 118 etwa entstand vermutlich, weil jemand mit unendlicher Dankbarkeit darauf reagiert, dass er vom Schöpfer nicht fallen gelassen wurde. Da heißt es nämlich: „Hart hat mich der Lebendige angefasst, doch dem Tod hat er mich nicht übergeben ... Ein Stein, den die Bauleute für untauglich hielten, wurde zum tragenden Eckstein" (Psalm 118,18.22) Wer kann das nicht nachvollziehen? Wer erinnert sich nicht an Situationen, in denen die Erwachsenen oder die Arrivierten einem, als man noch ein Kind war oder einfach ein Newcomer, den Eindruck vermittelten, man mache es nicht recht genug?

In der Schweizer Fassung lautet die elfte Strophe von „Ich singe dir mit Herz und Mund" so: „Du siehst dein Kind, wie oft es wein, und was sein Kummer sei; kein Tränlein ist vor dir zu klein, du hebst und legst es bei." Im deutschen Text steht's anders. Da erbarmt sich Gott der Tränen von Christen, nicht der Tränen der Kinder. Der Schweizer Text stößt uns klipp und klar darauf, dass wir in der Not oft zu Kindern werden, angewiesen auf die Nähe und den Trost der Großen. Der Dichter des Psalms 118 erfuhr diesen Beistand vom Schöpfer. Deshalb formuliert er jubelnd: „Dies ist der Tag, den Gott macht; lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein." Ähnlich ging es Paul Gerhardt. Er erlebte die ruinösen Folgen des Dreißigjährigen Krieges. Er war mit 14 bereits Vollwaise. Später machte er Karriere. Trotzdem entkam er nie der Trauer. Vier seiner fünf Kinder erreichten das Erwachsenenalter nicht.
Paul Gerhardt ertrug, was ihm zugemutet wurde. Vielleicht half ihm, dass er sich früh darin hatte üben müssen, sich auch selber zu sagen: „Wohlauf mein Herz, sing und spring und habe guten Mut. Dein Gott, der Ursprung aller Ding, ist selbst und bleibt dein Gut." (EG 324,13)

Vielleicht können nur die, die selbst Erfahrung mit Leid und Enttäuschung haben, die Hoffnung wirklich plausibel formulieren. Bei ihnen ist - aus welchen Gründen auch immer - zu spüren, dass sie nicht nur Formeln nachsprechen, sondern aufgrund eigener Auseinandersetzungen bei der Hoffnung bleiben. Das gilt auch für Paulus. Dem wurde - bildlich gesprochen - wahrlich nicht überall ein roter Teppich ausgerollt. Er musste für das Vertrauen zu ihm werben. Das hat ihn kaum übermäßig gekränkt. Es hat dies wohl wie eine Herausforderung erlebt, die ihn dazu motivierte, seine Hoffnung ansprechend auszudrücken. Die Worte des Paulus gingen nicht verloren. Sie wurden von den Honoratioren der damaligen Christenheit als überlieferungswürdig akzeptiert. Sie wurden in unsere Bibel aufgenommen.
Vielleicht überzeugen die Worte des Paulus auch deshalb, weil Paulus uns nicht darauf verpflichtet, erwachsen zu sein und alles im Griff zu haben. Paulus gibt den Kindern in uns eine Chance. Mehr noch, er spricht - wie Sie gleich hören werden - von einer Kindheit, so schön, dass niemand sich mehr wünschen muss, aus dieser Zeit möglichst schnell hinauszuwachsen.
Biblische Worte verlangen häufig nach Erklärungen. Man kann ihnen durch Erläuterungen jedoch auch den Glanz nehmen. Ich verzichte daher jetzt auf eine Erklärung von Paulus' Worten. Jede und jeder von uns mag und vermag selber weiter darüber nachdenken, wie sie konkret aussieht oder aussehen könnte, die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Wesentlich finde ich primär, die Begeisterung auf sich wirken zu lassen, die aus den Worten des Paulus bis heute sprudelt. Daher möchte ich mit Zeilen aus dem 8. Kapitels des Römerbriefs diese Predigt, dieses Plädoyer für das Kind in uns schließen, das Tränen kennt und das trotzdem singend springt.
Nun aber zu Paulus. Er schreibt: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder ... Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll ... denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes." (Röm 8, 14.15.19.21)

Gebet:
Wir danken dir nicht nur für die materiellen Güter, die wir uns erarbeiteten. Wir danken dir auch für die Orte, an denen wir so viel Geborgenheit erleben, als wären wir wohl behütete Kinder.

Gebet:
Wir bitten um die Kraft, weiter mit allen Kindern und Zarten auf Erden mitzuempfinden. Wir bitten um die Kraft, uns in der uns möglichen Weise zu engagieren, damit Ohnmacht und Gewalt ein Ende finden und alle Menschen sich frei fühlen, als wären sie fröhlich die Welt erkundende Kinder.

Liedvorschläge: 447,1.2.7 (Lobet den Herren)
324 (Ich singe dir mit Herz und Mund)
322,1-5 (Nun danket all und bringet Ehr)

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