Wer Gutes tun kann und nicht tut, der sündigt.
Jakobus 4,17
„Guten Morgen! Können wir Ihnen eine Frage stellen?" Die junge Frau mit Kinderwagen schaut verdutzt. Sie sieht etwas abgehetzt aus, aber Fred bleibt dran: „Wir kommen vom Goethe-Gymnasium und sollen eine Umfrage machen. Was halten Sie von dem Satz ,Wer Gutes tun kann und nicht tut, der sündigt'?" Nur widerwillig bleibt die Mutter stehen, aber dann legt sie los: „Genau. Richtig ist das. Die meisten Menschen denken ja nur noch an sich. Man sollte denen mal so richtig ins Gewissen reden." „Und Sie?", hakt Fred nach. Die Frau schluckt. „Sieh mal, das ist nicht so einfach. Bis vor einem Jahr habe ich noch bei den Pfadfindern mitgeholfen. Aber ich hab' ja noch meinen Beruf, und dann kam noch das Kind dazu. Das wurde einfach zu viel. Ich habe lange mit mir gerungen. Ich wollte gerne etwas für andere tun. Aber ich wurde immer gestresster und hab' die Kinder genervt angeschrien. Und schließlich habe ich bei den Pfadfindern aufgehört und mich lieber zur Entspannungsgymnastik angemeldet. Wahrscheinlich hätte ich das besser schon früher gemacht, bevor ich dauernd Magenkrämpfe bekam." Vorsichtig fragt Fred nach: „Dann ist der Satz also falsch?" „Ich weiß nicht ... Ich würde ja gerne mehr für andere tun. Aber es überfordert mich auch. So ein Satz übt ganz schön viel Druck aus. So, nun muss ich aber wirklich weiter."
Kaum ist sie weg, hat Lisa eine Frau um die 60 ins Gespräch verwickelt: „,Wer Gutes tun kann und nicht tut, der sündigt'. Was halten Sie davon?" Die Frau zeigt sich schlagfertig: „Dreh dich mal um. Siehst du das Plakat?" Lisa liest laut, was auf dem Plakat steht: Moment bitte, Sie haben sich mit Schulbüchern eingecremt. „Verstehe ich nicht: Moment bitte, Sie haben sich gerade mit Schulbüchern eingecremt. So ein Unfug." „Lies doch einfach, was da druntersteht", springt ihr Nora zur Seite: „Pflegeprodukte kaufen oder Zukunft schenken. Kindernothilfe". „Ich weiß nicht ..., meinen die etwa, ich soll auf meine Hautcreme verzichten, damit ich das Geld für Schulbücher in Afrika spenden kann? Ich bin doch nicht blöd. Das ist ja wohl mein gutes Recht. Schließlich habe ich mir das Geld durch Zeitungs-Austragen hart verdient." „Aber meinst du nicht auch, dass die in Afrika das Geld dringender brauchen als du?", schaltet sich Fred ein. „Aber das ist mein Geld. Da kann mich keiner zwingen, was abzugeben." „Ja, Recht hast du. Aber stell dir vor, jeder tut nur, was er muss - und mehr nicht." Die ältere Frau hatte interessiert zugehört und meldet sich nun zu Wort - schließlich sollte eigentlich sie interviewt werden: „Ich will euch mal etwas erzählen: Ein Mann fragt seinen Lehrer: ‚Was soll ich Gutes tun, damit ich das ewige Leben habe?' Der antwortet: ‚Halte die Zehn Gebote.' ‚Alles gemacht', sagt der Mann, aber er ahnt, dass das nicht reicht: ‚Was fehlt mir noch?' ‚Willst du vollkommen sein, so geh hin und verkaufe, was du hast und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben.'" Lisa ist beeindruckt: „Der verlangt aber einiges." „Und wie. Es ging ihm ja nicht nur darum, irgendwie anständig durchs Leben zu kommen, sondern immerhin um das Himmelreich und die Vollkommenheit. Vollkommen sein, und nicht bloß anständig, das ist ein himmelweiter Unterschied. Der macht den Himmel weit bis auf die Erde. - Euch wünsche ich noch gute Interviews", verabschiedet sie sich.
Ein bisschen müssen die drei warten, da sieht Nora einen älteren Mann kommen, gemächlich, selbst der Dackel zieht unruhig an der Leine. Nora geht ihm entgegen und sagt ihren Spruch auf: „,Wer Gutes tun kann und nicht tut, der sündigt.' Was halten Sie davon?" „Ja", sagt er langsam und gedankenversunken, und es entsteht erst mal eine Pause „ja, wenn das so einfach wäre." Er holt seine Zeitung aus dem Mantel und schlägt sie vor den Schülern auf: „Schlaganfall durch neues Diabetes-Medikament". „Seht ihr, da geben sich die Forscher große Mühe, sie wollen den Kranken helfen, und am Ende richten sie großen Schaden an." Nora weiß nicht, was sie darauf antworten soll. „Vielleicht ist das auch eine Frage des Alters. Früher habe ich auch gedacht, man muss nur wollen, dann können wir die Welt verbessern. Darum bin ich in die Politik gegangen, war 20 Jahre Ortsbürgermeister. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich im Rückblick sagen: ,gut gemeint', mehr nicht. Vieles hat sich hinterher als falsch herausgestellt." - „Würden Sie trotzdem wieder Bürgermeister werden?", will Nora neugierig wissen. „Ja - ich glaube schon. Ich wäre nicht mehr so besserwisserisch. Ich wüsste, wie wenig ich weiß. Aber ich würde wieder nach bestem Wissen und Gewissen Verantwortung übernehmen. Und ich glaube, darum würde Gott auch über alle meine Fehler hinwegsehen." Überrascht ist er, dass er auf einmal so fromm geredet hat. Trotzdem hält Lisa dagegen: „Ich finde, der Satz übt mächtig Druck aus." „Ich versuch's mal zu erklären", sagt der Mann: „Wer aus Angst vor Fehlern das Gute unterlässt, hat zu wenig Vertrauen auf Gott. Er sündigt, weil er nicht glaubt, dass Gott Fehler vergibt. Aber je mehr ich Gott das glaube, desto mehr Mut bekomme ich."
Alle gehen dem Gehörten nach, bis der Kirchturm Viertel nach schlägt. „Wir müssen schnell rüber zur nächsten Stunde", schrickt Nora auf. „Aber danke, mir hat das eingeleuchtet: Ganz oft traue ich mich nicht, Gutes zu tun, weil ich so oft schon Fehler gemacht habe. So wie Sie das sagen, wäre genau diese Angst Sünde. Aber wenn es einen Gott gäbe, der mir meine Fehler vergibt, das gäbe mir Mut zum Handeln. Ich bin gespannt, was die anderen aus der Klasse dazu sagen werden."