Schweigen

Im Winter 2005/2006 wurde in süddeutschen Kinos ein einzigartiger Film gezeigt: „Die große Stille“. Eindrucksvoll „spricht“ dieser Film vom Schweigen. Über Monate hinweg hatte ein Kameramann die Mönche in der Grand Chartreuse in den französischen Alpen begleitet und beeindruckende Bilder eingesammelt. Sie zeigen das Leben der Kartäusermönche, die sich in die Einsamkeit und Stille zurückgezogen haben, um sich ganz dem Lobpreis Gottes und dem fürbittenden Gebet zu widmen. In einem abgelegenen Alpental haben sie ihr Kloster gebaut. Hierher findet kein Tourist (und wenn doch, dann wird er draußen vor der Klostermauer freundlich gebeten, die Stille nicht zu stören).
Im Film werden nur wenige Worte gesprochen. Umso mehr wird der Zuschauer in eine geheimnisvolle Welt mitgenommen, die ihn zunehmend fasziniert und ihn nicht als Zuschauer außen vor lässt, sondern ihn mit hinein- nimmt in die Welt der Kartäuser.
Wer diesen Film gesehen, ja miterlebt hat, verließ berührt das Kino. Offensichtlich hat der Film Menschen in ihrer Ur-Sehnsucht nach Stille angerührt. Viele erleben ihren Alltag, selbst die Freizeit, vielleicht ihr ganzes Leben als unendlich laut. Von allen Seiten strömen Geräusche auf den Menschen ein. Und in den Großstädten gibt es nie eine absolute Stille. Selbst nachts ist das Brummen von Fab- rikanlagen und das Rauschen der großen Verkehrswege zu hören.
Aber was geschieht, wenn ich mich dazu entschließe, in die Einsamkeit und Stille zu gehen? Zuallererst entdecke ich eine kaum zu zähmende Unruhe in mir. Ich ertrage es nicht, dass die sonst so gewohnten Geräusche verstummen. Wenn ich zudem nicht auf irgendwelche Geräuscherzeuger zurückgreifen kann, dann muss mich dem stellen, was sich in mir an Gedanken und Gefühlen regt und meldet. Aber erst wenn ich den Mut habe, mich gerade dem zu stellen; wenn ich bereit bin, den inneren Lärm auszuhalten, dann finde ich langsam zu Ruhe, weil sich meine Gedanken klären und dadurch zu Ruhe finden können.

Der heilige Benedikt, der Vater des abendländischen Mönchtums, ist als junger Mann diesen Weg gegangen. Abgestoßen von der äußerlichen Lebensweise, die er als junger Student in Rom erleben musste, hat er sich in die Einsamkeit zurückgezogen, um in der äußeren Stille zum Wesentlichen seines Lebens zu finden. Losgelöst von den Ablenkungen des Alltags, findet er sich seinen Gedanken, Gefühlen und Fantasien ausgeliefert. Erst langsam klären sich seine Motive. In dieser entscheidenden Phase seines Lebens wird er von Romanus, einem erfahrenen Einsiedler, in dessen Nähe er sich niederlässt, begleitet.
Für Benedikt wird immer klarer, dass er auf die Stimme Gottes horchen muss, um sich daran auszurichten. Nur so kann er zu einem erfüllten Leben finden. Und so beginnt seine Klosterregel, die er gegen Ende seines Lebens aufschreibt, mit dem für ihn zentralen Wort: „Höre!“ Noch einige Male taucht das Wort „hören“ in seiner Klosterregel auf, nicht zuletzt in der besonderen Form des „Gehorsam“.
Im Gehorsam finden sich das „hören“ und zugleich das „horchen“ wieder. Das „hören“ bezeichnet einen Vorgang, in dem das menschliche Ohr Schallwellen aufnimmt und an das Gehirn weiterleitet, das dann diese Geräusche als Sprache oder Musik identifizieren kann. Dem gegenüber ist das „horchen“ ein viel umfassenderer Vorgang, weil hier zusätzlich die Stimmungen und Schwingungen, die mehr sind als Schallwellen, aufgenommen werden. Mancher mag hier vielleicht auch von einer inneren Stimme sprechen. Für Benedikt spricht Gott auf diesem Weg zu den Menschen. Und weil ihm das Hinhorchen auf Gottes Stimme so lebenswichtig ist, strukturiert er den klösterlichen Alltag durch das gemeinsame Gebet und ermutigt den Mönch zum persönlichen Beten. Dazu kommt das meditative Lesen in der Heiligen Schrift, in der sich Gott den Menschen offenbart hat.
Vor allem aber weist er die Mönche an, „das viele Reden nicht zu lieben“, und widmet der Schweigsamkeit ein ganzes Kapitel seiner Regel. In diesem Kapitel geht es zwar auch um konkrete Anweisungen für den klösterlichen Alltag, aber zuerst versteht Benedikt die Schweigsamkeit als eine Grundhaltung des (klösterlichen) Lebens. Diese setzt sich dann in den konkreten Gestaltungen des Alltags ins Leben um: das Schweigen bei Tisch, die Reduktion des Sprechens auf die notwendigen Informationen bzw. Absprachen und vor allem das Schweigen während der Nachtstunden zwischen dem letzten gemeinsamen Gebet des einen und dem Gebet am Morgen des folgenden Tages (das auch das große Schweigen genannt wird). In keinem Fall aber ist das Schweigen Selbstzweck. Es dient der größeren Aufmerksamkeit auf Gottes Wort im alltäglichen Leben. Ja, es hat sogar sein Vorbild in Jesus selbst, der schweigend auf das Wort seines Vaters hört, um es dann in die Welt zu tragen.

Was in den Klöstern zur Zeit des heiligen Benedikt und bis heute gelebt und geübt wird, bietet eine Vielzahl von Impulsen. Zunächst ist es geradezu tröstlich, dass das Leiden unter der Unmenge von Eindrücken, die von außen auf den Menschen treffen, nicht erst ein Problem unserer Zeit darstellt. Ebenso ist es nicht damit getan, alle Geräusche oder sonstige Störungen einfach abzuschalten, vielmehr muss ich mich um eine äußere und innere Haltung der Schweigsamkeit bemühen, sie regelrecht einüben. Dazu braucht es helfende Strukturen, wie feste Zeiten oder besondere Orte, die mir zur Stille helfen und zum Schweigen einladen. Ob ich mir am Morgen und/oder am Abend eine Zeit der Stille gönne, hängt von meiner persönlichen Gestimmtheit und von meinen Lebensmöglichkeiten ab. Vielleicht habe ich in meiner Wohnung einen Raum oder einen Bereich, der mich einstimmt und einlädt. (Manchem ist der „Herrgottswinkel“ vertraut.) Vielleicht liegt an meinen alltäglichen Wegen eine Kirche, in die ich immer wieder zur Sammlung und zum Gebet einkehren kann. Dem einen genügt es, still da zu sein, in einer angenehmen und zugleich aufmerksamen Körperhaltung. Mancher braucht eine besondere Form als Begleitung in das Schweigen, wie das meditative Lesen in der Heiligen Schrift, das Psalmengebet in der Form des Stundengebetes, das Jesus-Gebet oder eine andere Methode. Dabei geht es aber immer darum, Gottes Wort in meinem Leben Raum zu geben, es erst einmal ankommen und dann wirksam werden zu lassen.
Solch methodische Hinweise können dabei eine Spur legen, nie aber ein Erfolgsrezept sein. Das Üben der Schweigsamkeit bleibt eine lebensbegleitende Aufgabe.

Einen besonderen Stellenwert besitzt für mich die Stille, das Schweigen in der Feier unserer Gottesdienste. Im Grunde beginnt dies schon bei der Vorbereitung zum Gottesdienst. Alle vorbereitenden Absprachen müssen rechtzeitig getroffen sein - und dazu ist es einfach notwendig, früh genug in der Sakristei zu sein. In katholischen Gemeinden muss obendrein eine mehr oder minder große Schar aufgeregter Ministranten „gebändigt“ werden. (Als Gemeindepfarrer habe ich immer Wert darauf gelegt, dass es in der letzten Minute vor dem Gottesdienst in der Sakristei wirklich still geworden ist.) Mit dem Einzug in die Kirche beginnt dann der Gottesdienst. In vielen evangelischen Gemeinden ist es üblich, dass der Liturg bereits zum Glockengeläut in der Kirche Platz nimmt, um sich zu sammeln und auch die versammelte Gemeinde zur Stille einzuladen.
Auch während der Gottesdienstfeier gibt es Zeiten der Stille. So leitet der Zelebrant das Tagesgebet mit der Einladung „Lasset uns beten“ ein. Dann folgt eine kurze Stille, die jedem Einzelnen Raum zur Sammlung gibt. Das laut gesprochene Gebet soll dann das persönliche Beten zusammenfassen.
Die einzelnen Teile des Gottesdienstes müssen nicht Schlag auf Schlag aneinander gereiht sein. Allein dass die Helfer im Gottesdienst einen kurzen Weg zurücklegen müssen, schafft immer wieder Übergänge und Ruhezeiten.
Lieder müssen nicht bereits angezeigt werden, solange noch ein Gebet gesprochen oder eine Lesung vorgetragen wird.
Ganz besonders nach den Höhepunkten des Gottesdienstes, dem Hören auf die Frohe Botschaft, nach dem Einsetzungsbericht und nach dem Kommunionempfang, sind Zeiten der Stille, der Sammlung und des Gebetes angebracht. So haben wir in unserer Gemeinde insbesondere in den Gottesdiensten an Wochentagen nach dem Evangelium wieder Platz genommen, um das Gehörte aufnehmen und eine Weile dabei verweilen zu können. Ebenso wurde die Stille nach dem Kommunionempfang zu einer geradezu kostbaren Zeit. Nach anfänglicher Verwunderung und Unsicherheit hat die mitfeiernde Gemeinde die Zeit der Stille und des Schweigens dankbar angenommen. Sie ist ein wesentlicher Teil der Feier geworden. „Eine Zeit zum Schweigen, eine Zeit zum Reden“, heißt es in Pred 3,7. Damit ich richtig, das heißt aufmerksam reden kann, brauche ich das Schweigen. Und es liegt an mir, dies nicht nur äußerlich umzusetzen, sondern als Grundhaltung immer wieder einzuüben.

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