Dem Roman „Die kommende Welt" von Dara Horn, erschienen 2006 im Berlin Verlag, entnehme ich die folgende Geschichte (S. 36ff):
„Dies ist die Geschichte der All-Brücke, der Brücke, die von den tiefsten Tiefen des Abgrunds zu den höchsten Höhen des Himmels führt.
Sie wurde am Ende der Schöpfungswoche geschaffen, am Freitagabend, in der Dämmerung, kurz bevor Gott die Welt fertig stellte und am siebten Tage ruhte. Aber er hatte sich nicht viel Mühe damit gegeben. Sie war eilig gebaut und dann gleich sich selbst überlassen worden, als Gott den Sabbat feiern ging. Und so war die Brücke in der ersten Nacht der Welt allein. Stumm stand sie in der Dunkelheit, mit den Füßen tief im Abgrund und dem Kopf hoch im hellen Heiligtum, wo eine geheiligte Stille herrschte.
Im Heiligtum gab es eine Tür, die zu einer weiteren Tür führte, und die zweite Tür war verschlossen. Dahinter ge-dachte Gott in jener Nacht nach einer Woche Welt-schmerz, den Sabbat zu feiern. Die Brücke überließ er sich selbst.
Die Brücke war sehr zufrieden mit ihrem Kopf, der an der Pforte zum Heiligtum saß. Ihre Füße aber versanken im kalten Morast, wo seltsame Reptilien über sie hinwegglitschten. Also beschwerte sie sich, und zwar so lautstark, dass Gott, gleich nachdem er sie geschaffen hatte, floh und sich hinter der himmlischen Tür verschanzte. Da stattete Satan der Welt seinen ersten Besuch ab.
,Hier bist du also', sagte Satan zur Brücke, ,und hast nichts zu tun. Es ist Nacht, es ist Sabbat, und Gott hat sich in sei-nem Heiligtum eingeschlossen. Komm doch mit mir in den Abgrund.'
,Genau da will ich nicht hin', sagte die Brücke. ,Ich stehe ja schon jetzt mit den Füßen in Schlick und Morast. Warum soll ich bis zum Kopf darin eintauchen?'
,Weil es ohnehin passiert', erwiderte Satan. ,Was soll das heißen?', fragte die Brücke.
,Wie bitte?', schnaubte Satan, ,weißt du denn nicht, was deine Aufgabe ist?'
,Meine Aufgabe?', fragte die Brücke.
,Ja, deine Aufgabe. Wie, die kennst du nicht? Es ist furcht-bar ungerecht! Warum soll alles auf der Welt um seiner selbst willen geschaffen worden sein, nur du nicht? Warum sollst du allein zum Wohle der anderen existieren, damit alle auf dir herumtrampeln können?'
Und dann erklärte Satan der Brücke ihren Daseinszweck:
Alle Generationen, von der ersten Generation der Welt bis zu allen nachfolgenden, würden aus der Tiefe hinaufwan-dern. Wer aufstieg, brachte seinen eklig feuchten Körper mit, beschmierte die Brücke mit Dreck und Schlick, bis sie so besudelt war, dass sie ebenso gut in der Tiefe versinken und sich dort anderer Leute Unrat unterwerfen konnte. Als die Brücke das hörte, wurde ihr ganz schwindlig.
,Bist du gar nicht empört?', fragte Satan.
Angewidert erschauerte die Brücke. ,Und wenn schon? Was kann ich denn dagegen tun?'
Satan trat näher und flüsterte ihr ins Ohr: ,Brich entzwei! Jetzt! Gott merkt ja nichts, der sitzt in seinem Heiligtum. Und dann errichten wir beide in den Tiefen unser eigenes Königreich, und du wirst eine richtige Brücke sein und dich über den ganzen Abgrund erstrecken, ohne in den Himmel zu reichen. Wer braucht schon Gott und sein Heiligtum, wenn wir uns selbst regieren können?'
Die Brücke lauschte stumm.
,Denk in Ruhe darüber nach', sagte Satan und entfernte sich.
Die Brücke zagte und zauderte. Ein kalter Schauer erfasste sie in ganzer Länge, und die Füße zitterten im Abgrund.
Der Sabbat verstrich, und schließlich erschien Gott auf der Schwelle des Heiligtums.
,Gut Woch!', sagte Gott zu der Brücke. Zum ersten Mal benutzte er diesen Gruß zum Ausklang des Sabbat.
Die Brücke fühlte sich schmierig, und auf einmal zog sie den Teil heraus, der im Abgrund steckte, und brach ihn ab. Jetzt hatte sie zwar keine schlammigen Füße mehr, aber ihr Augenlicht wurde trüb wie bei einem geschlagenen Mann.
,Gut Woch!', gab die Brücke Gottes Segen zurück. Be-schämt schlug sie die Augen nieder."
Es liegt ja oft ein tiefes Geheimnis über jüdischen Legenden und Geschichten. Vielleicht macht das gelegentlich Archetypische ihren Reiz aus. Warum ich diese Brücken-Geschichte hier im Editorial - in der Passionszeit - veröffentliche, hat seinen Grund darin, dass mir beim Lesen sofort die Parallele zu den Passionsgeschichten auffiel und ich dachte:
Jesus hat das Abverlangte ausgehalten. Er hat nicht abgebrochen. Wir Christen versteigen uns zu der Aussage, Gott selbst habe in diesem Jesus aus Nazareth die Brücke auf eigene Kosten errichtet. Er hat nicht nur die Welt sich nicht selbst überlassen, sondern sich selbst der Welt überlassen. Eben als Brücke zum Leben.
Passionszeit ist - ausgesprochen oder unausgesprochen - die stets wiederkehrende Auseinandersetzung mit dem schwierigsten Kapitel Theologie, der Christologie, und darin mit dem uns fremdesten, dem Geheimnis des Leidens und Sterbens Jesu als Ausdruck des göttlichen Willens. Wir predigen in Bildern - mit dem Bild der Brücke wollte ich dazu einladen - , wir suchen nach Erklärungen und scheitern dabei (vgl. die Auslegung des Wochenspruchs vom 25. März von Elisabeth Grözinger, S. 170f), wir begegnen der Haltung: „Für mich hätte Jesus nicht zu sterben brauchen" oder: „Ist Gott keine andere Lösung eingefallen?" (vgl. hierzu den Beitrag „Kreuz predigen" von H. Barié, S. 215ff, dem ich besonders dankbar bin für seine klare theologische Aussage, die mir - mit dem Jüngel-Zitat auf S. 217! - eine „Last" abnimmt.) Am Ende bleibt vieles offen. Vielleicht ist das in christologisch eher dunkler Zeit schon allein wichtig, dass angesichts des Todes des Einen „etwas offen bleibt" und nicht gleich wieder mit unserer Geräuschkulisse - das ist unser Schreiben und Reden doch gelegentlich auch - überdeckt wird. Vielleicht, dass daraus ein neues Hören erwächst?
Alle Beiträge des März-Heftes befassen sich mit dieser großen Herausforderung, auch die sehr persönlichen von Hans-Günther Haas und Thomas Roscher am Ende des Heftes.
Eine wahre Fundgrube ist diesmal der „Buchtipp" von Werner Milstein zum Paul-Gerhardt-Jahr.
Gerhard Engelsberger