Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn.
Römer 14,8b (E)
Mein lieber Dietrich Bonhoeffer,
vor einigen Tagen habe ich einige der Briefe gelesen, die Sie mit Ihrer Verlobten Maria von Wedemeyer getauscht haben. Damals saßen Sie im Gefängnis. Sie und Ihre Verlobte hatten kaum Gelegenheit, sich wirklich kennen zu lernen, bevor Sie inhaftiert wurden. Ihre Briefe haben mich sehr berührt. Ich habe schon vieles von Ihnen gelesen. Aber in den Briefen, die Sie Maria geschrieben und von ihr bekommen haben, da tritt noch einmal eine ganz andere Seite Ihres Wesens und Lebens hervor. Sehr menschlich, sehr verletzlich, sehnsüchtig, manchmal verzweifelt und doch das Leben bejahend und auf Gottes Nähe vertrauend - so erscheinen Sie mir in diesen Briefen. Wenn ich diese Briefe lese, dann verstehe ich besser, wie Sie sich selbst in Ihrem Gedicht „Wer bin ich?" beschreiben: „Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen ..." So viel Sehnsucht nach Leben spricht aus Ihren Briefen.
Erst spätabends habe ich Ihre Briefe weggelegt. Es war der 31. März. Am nächsten Morgen, dem 1. April, habe ich das Kalenderblatt für den März von meinem Kalender gerissen und das Kalenderblatt für den April betrachtet. Ein Strauß Frühlingsblumen wurde sichtbar, und ich dachte an Ihr Gedicht: „... hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen". Unter dem Bild stand der Spruch für den Monat April: Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn.
Das ist ein Gedanke des Apostels Paulus, der mir schon immer fremd war, der mir verschlossen blieb in seiner Spröde, in seiner Strenge. Mit dem „Wenn wir leben, gehören wir dem Herrn" habe ich dabei weniger Probleme. Ich lebe gern. Ich habe Freude an den Farben, den Jahreszeiten, den Blumen, dem Singen der Vögel, gerade wie Sie, und dankbar nehme ich dies alles aus Gottes Hand. Ich weiß, es ist nicht selbstverständlich. Aber gerade weil ich so gern lebe, kann ich doch nicht sagen: Ob ich lebe oder ob ich sterbe, ... als wäre mir beides gleich recht.
So habe ich bisher gedacht, und der Vers war mir so verschlossen wie eine Nuss, die sich hartnäckig wehrt, geöffnet zu werden.
Doch nach der Lektüre Ihres Briefes lese ich den Vers mit neuen Augen. Ich denke, auch Ihnen war es nicht gleich, ob Sie nun leben oder sterben. Sie wollten leben. Aber es wurde Ihnen verwehrt. Am Ende haben die Nazis Sie doch ermordet. So viele Ihrer Sehnsüchte durften sich nicht erfüllen. Aber dennoch sind Sie diesen Weg, den allerschwersten, ohne Bitterkeit gegangen. Der Gefängnispfarrer hat gesagt, er habe nie einen Menschen so vertrauensvoll sterben sehen. Und Sie haben gesagt: Dies ist das Ende. Für mich ein neuer Anfang.
Mit Ihrem Leben, aber auch mit Ihrem Sterben, haben Sie gezeigt, was das heißt: dem Herrn gehören. Als Christinnen und Christen, so verstehe ich das nun, gehören wir nicht anderen Herren. Nicht den Nazis. Nicht dem Konsum. Nicht der Karriere. Nicht dem Druck, immer funktionieren zu müssen. Nicht dem Kampf, besser zu sein als andere. Nicht dem Fitness- und Jugendwahn. Wir gehören nicht anderen Herren. Wir gehören dem Herrn. Das gilt in unserem Leben. Aber es gilt auch im Sterben. Wir gehören nicht dem Dunkel. Wir gehören nicht dem Vergessen. Wir gehören nicht dem Nichts. Wir gehören dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn.
Durch Sie, lieber Dietrich Bonhoeffer, habe ich das nun begriffen. Ich danke Ihnen.