Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem
Niedergang sei gelobet der Name des Herrn.
Psalm 113,3
„Worüber denkst du gerade nach?", fragt mich mein Mann, der zu einer kleinen Stippvisite an meinen Schreibtisch kommt. „Psalm 113, 3, den Monatsspruch für Juli." - „Wie heißt er denn?" - „Den kennst du bestimmt: ,Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn.'" - „Ach, schön!", sagt mein Mann, pfeift die Melodie des gleichnamigen Kanons und trollt sich fröhlich davon. Von da an erklingt sie immer wieder, den ganzen lieben Tag lang. Und jedes Mal singe ich im Stillen mit: „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn."
Diese Worte wollen nun einen ganzen Monat lang mit uns gehen, von morgens bis abends, Tag für Tag, sei er nun süß oder schwer. Sie wollen uns helfen, dass das Lob Gottes einen neuen bzw. größeren Platz in unserem Leben bekommt. Sie wollen uns Augen und Ohren, Herz und Seele und alle Sinne für die Schönheit und Kostbarkeit des Lebens öffnen. Denn nur wer genau hinsieht und hinhört und hinspürt, kann auch staunen und loben. Das Lob Gottes ist lebenswichtig für uns. Wir können uns den Luxus des Schweigens vor Gott nicht länger leisten. Wir schrumpfen, verkümmern, vertrocknen sonst. Gott möchte uns aufrecht, strahlend, würdevoll, herrlich, seinem Bild entsprechend, als sein Gegenüber. Gott loben, das ist unser Amt. „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn."
Keine Angst. Wir müssen deshalb nicht alle Frühaufsteher werden. Auf die Zeit kommt es gar nicht so an. Wir dürfen Gott auch mitten in der Nacht loben. Das Psalmwort ist ohnehin nicht zeitlich gemeint, sondern räumlich. Die Menschen zur Zeit des Psalmisten dachten ja, die Erde sei eine Scheibe. „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang" meint dann: „überall auf der Welt". Dass aber das Lob des Gottes Israels auf der ganzen Welt erklingen solle, das war damals eine echte Provokation. Angesichts anderer Kulturen und Religionen ist es das eigentlich bis heute.
Wenn vom Namen des Herrn die Rede ist, denken wir Christen meist sofort an Jesus Christus. In ihm haben wir den Gott Israels kennen gelernt als die Quelle des Lebens und als unseren liebenden Vater im Himmel. Durch ihn und in ihm, so glauben und erwarten und ersehnen wir es, wird der ganze Erdkreis mit Gott versöhnt werden und einst einstimmen in sein Lob.
Ist aber dieser weltweite Anspruch, diese universale Heilserwartung nicht eine Provokation für Menschen anderen Glaubens? Wohl schon! Aber nur, solange wir ihnen ihren Glauben absprechen. Sind sie denn wirklich fern von Gott? Umkreisen und berühren nicht auch sie mit ihren Gotteserfahrungen und Gottesnamen das Geheimnis des Ewigen? Ergreifen nicht alle Namen, auch die, mit denen wir Gott anrufen, nur einen Zipfel von seinem Gewand? Gott ist anders, Gott ist mehr, als wir es je in einem Namen zum Ausdruck bringen könnten. Und er ist mehr, als es je ein Mensch in seinem ganzen Leben erfassen könnte.
Darum bin ich froh, dass der hebräische Urtext an dieser Stelle schillernd bleibt. Dort steht nämlich das Tetragramm, JHWE, Jahwe. Der Name, mit dem sich Gott einst selbst offenbart hat, damals, als er Mose am brennenden Dornbusch begegnet ist. Der Name, der für Juden unaussprechlich ist und in dem für mich alle Namen Gottes zusammenfließen. Er ist Offenbarung und Geheimnis zugleich, kann nur umschrieben werden: „Ich bin, der ich bin. Ich werde sein, der ich sein werde. Ich bin für dich da."
Diesen treuen Gott, der für uns da ist, will ich loben. Und ich will dabei nicht abhängig sein von den Sonnenseiten des Lebens. Gewiss, wir lernen das Lob Gottes gerne und leicht an den schönen Dingen. Wir lernen es aber auch und ganz besonders in den schweren Zeiten unseres Lebens, wenn auch unter Tränen.
Gibt es etwas Größeres? Wer ist wie der Herr, unser Gott? Die Freude an ihm soll sich mit neuer Kraft und Liebe in unseren Herzen zusammenbrauen und als Lob und Dank aus uns hinaussprudeln: „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn."
Christus spricht: Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.
Offenbarung 1,18
Die historische Diskussion ist mir inzwischen leid. Wenn die ersten Glaubenden die Osterbotschaft erfunden hätten, hätten sie gewiss nicht Frauen zu Zeugen des leeren Grabs gemacht; deren Zeugnis galt damals vor Gericht nichts. Sie hätten auch gewiss nicht von Begegnungen mit dem Auferstandenen berichtet; denn solche Berichte haben ihnen dann den Märtyrertod eingebracht. Eine betrügerische Erfindung der Osterbotschaft hätten die Damaligen gewiss viel intelligenter angestellt. Darum will ich mich an der historischen Debatte nicht länger beteiligen, auf keiner der beiden streitenden Seiten. Mich interessiert ausschließlich die Frage, welchen Nutzen wir aus der Osterbotschaft haben, was deren Ertrag für uns Nachgeborene ist. Sehen lernen, sagt der Auferstandene, in eine neue Welt hinein sehen lernen. Über Gräbern und Massengräbern den Himmel glauben; in den Abbrüchen unserer Pläne neue Anfänge erhoffen; an der Sehnsucht nach Aufklärung festhalten über den Tod hinaus, um dann endzeitlich zu erfahren, worin der Sinn in den Absurditäten der Weltgeschichte und der eigenen Lebensgeschichte lag. Es geht also nicht einfach um die Rückkehr eines Toten ins Leben. Was berührt mich das, was berührt das meine Nachbarn und meine Wanderfreunde? Es geht um die Schlüssel, die die Wirklichkeit aufschließen, die uns ohne Ostern verschlossen bleibt. Inmitten unserer eigenen Welt wird uns die Wirklichkeit der neuen Welt Gottes aufgeschlossen. Darum gibt es an Ostern viel zu sehen. Siehe: Das leere Grab, den Auferstandenen, Ostereier als Symbole des Lebens, vom Frost bedrohte Blütenzweige, die Frucht versprechen, Menschen, die einander erwartungsvoll begegnen. Ostern zeigt uns die Wirklichkeit Gottes in unserer Wirklichkeit und damit neue Möglichkeiten des Lebens für uns. Siehe! Das sagt der, der tot war. Wir müssen Leiden und Tod nicht übersehen und können das auch gar nicht. Aber seit Ostern brauchen wir unseren Blick davon nicht mehr gefangen nehmen lassen.