Schaut man in Agenden oder Messbücher, holt man sich Rat in Literatur zur Gottesdienstvorbereitung, in Gottesdienstvorschlägen oder in frei ausgearbeiteten Gottesdienstverläufen, so findet man für das Gebet, das im ersten Teil des Gottesdienstes gebetet wird, recht unterschiedliche Bezeichnungen. Das muss nicht daran liegen, dass die Autoren mit den Bezeichnungen und den damit benannten Gebetsformen etwa nicht zurechtkämen, sondern es könnte auch sein, dass verschiedene Gebetsgattungen intendiert sind. Und womöglich gehören die verschiedenen Gebetsgattungen auch zu unterschiedlichen Gottesdiensttypen. Denn eines ist festzuhalten: Ein Gebet besteht nicht allein aus seinen Worten, sondern auch aus seiner Form. Und durch seine Platzierung im Gottesdienstverlauf erlangt es eine weitere Bedeutungsebene: Nicht allein die Worte teilen einen Inhalt mit, sondern auch die Form sagt etwas aus. Auch die Form ist wirksam. Oder: Dadurch, dass die Worte in eine Form gebracht werden, wird zugleich schon die Form eines Gebets gestaltet. Worte und Form sind im gottesdienstlichen Vollzug nicht mehr zu unterscheiden, ja, sie sollen nicht einmal unterschieden werden, sondern wirken durch ihre wahrnehmbare Gestalt. Auf der Ebene der Reflexion sind Worte bzw. Inhalt und Form dagegen durchaus zu unterscheiden. Das es für die Vorbereitung auf den Gottesdienst unerlässlich ist, die Gebetsformen unterscheiden und in ihrer Funktion erkennen zu können, sollte man sich gründlich mit entsprechender Literatur befassen.
Das Kollektengebet ist wohl die ältere Form der Gebete, die im ersten Teil des Gottesdienstes zu finden sind. Es schließt den Eröffnungsteil des Gottesdienstes nach Kyrie und Gloria ab und hat seine klassische Form in der Messe - jenem Gottesdiensttyp, der den Wort- und Abendmahlsteil beinhaltet - gefunden. Wie das Wort colligere sagt, werden hier Inhalte eingesammelt, zusammengetragen, zusammengefasst. Diese Inhalte klangen in dem voraufgehenden Teil des Gottesdienstes an und werden nun vom Liturgen eingesammelt bzw. zusammengetragen und zusammenfassend in eine Form gebracht. Dank ihrer zusammenfassenden Wirkung und präziser Knappheit ist dieser Gebetsform geeignet, um in einem Gedankengang den Eröffnungsteil des Gottesdienstes abzuschließen. Der Messtyp des Gottesdienstes kennt den voraufgehenden Introituspsalm, das Kyrie und das Gloria - und nicht zu vergessen die Gebetsstille vor dem Kollektengebet, die aber meiner Erfahrung nach fast nirgendwo mehr praktiziert wird. Auch das Kyrie kann tropiert, d. h. durch Texteinschübe, erheblich mehr an Inhalt zum Ausdruck bringen als das heute gebräuchliche „Herr, erbarme dich", indem der Chor oder auch die Gemeinde durch weitere Gebetsaussagen den Inhalt erweitert. In unserem Evangelischen Gesangbuch findet sich solche Kyrie unter den Nummern 178.6 bis 178.8: Der Vorsänger singt z. B. an Ostern: „Der am Kreuze starb und uns Heil erwarb", woraufhin die Gemeinde das Kyrie eleison anstimmt, danach singt der Vorsänger „Sieger im Todesstreit, König der Herrlichkeit", und die Gemeinde schließt das Christe eleison an usw. Eine andere Möglichkeit findet sich unter der Nummer 178.4; dort singt der Chor zuerst „Kyrie", dann: „Gott Vater in Ewigkeit, groß ist dein Barmherzigkeit, aller Ding ein Schöpfer und Regierer:" daraufhin singen alle „eleison" usw. Auch das Gloria bietet eine ganze Reihe von Inhalten, etwa indem nicht nur der erste Satz des Gloria angestimmt wird, sondern auch die Fortführung gesungen (EG 180.1) oder durch eine Liedstrophe ersetzt wird. Auch hier werden je nach Sonntagsproprium Inhalte benannt, die in dem Kollektengebet zusammengetragen werden können, einmal ganz abgesehen von dem Stillen Gebet, das nach der Aufforderung des Liturgen vor dem Kollektengebet „Lasst uns beten" zunächst erfolgt. Hier hat jeder Gottesdienstteilnehmende die Möglichkeit, seine eigenen Gedanken vor Gott zu bringen, bevor der Liturg das Kollektengebet wie folgt gestaltet: Zuerst spricht er die Gottesanrede (Anaklese) mit Apposition oder Relativsatz (hier kann das Sonntagsproprium in der Gottesanrede als relativische Prädikation verwendet werden), es folgt eine kurze Gewährungsbitte (Supplikation), das Gebet wird mit dem trinitarischen Schluss (Konklusion) und mit dem Amen (Akklamation) der Gemeinde beendet. Als Beispiel sei hier das Kollektengebet für den Sonntag Rogate des Evangelischen Gottesdienstbuches wiedergegeben: „Heiliger Gott, von dir kommt alles Gute und Vollkommene. Deshalb bitten wir: Erleuchte uns zu erkennen, was recht ist, und leite uns, es auch zu tun. Durch unsern Herrn Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und wirkt von Ewigkeit zu Ewigkeit." (335)
Die Bezeichnung „Kollekte" ist wohl nicht mehr als passend empfunden worden. Das römisch-katholische Messbuch in deutscher Übersetzung von 1975 hat es durch den deutschen Begriff „Tagesgebet" ersetzt. Die neueren evangelischen Agenden sind ihm in dieser Bezeichnung gefolgt.
Ein weiteres Kollektengebet ist die Postcommunio, das Dankgebet zum Abschluss der Abendmahlsfeier. Sie hat die gleiche zusammenfassende und abschließende Funktion für die Abendmahlsfeier wie das „erste" Kollektengebet für den Eröffnungsteil des Gottesdienstes.
Wenn man sich noch einmal die mittelalterliche Messeröffnung vor Augen führt, ergibt dieses „erste" Kollektengebet als Abschluss der Eröffnung einen Sinn: Der Klerus zieht in die Kirche ein, während der Chor den Introituspsalm singt. Ist der Klerus am Altar angekommen, werden Kyrie und Gloria gesungen, der Liturg grüßt die Gemeinde (Salutatio) und spricht das Kollektengebet als Abschluss der Eröffnung. Daraufhin setzen sich alle auf ihre Plätze und die erste Schriftlesung, die Epistel, beginnt.
Es ist liegt wohl an der Nähe des Kollektengebets zur Epistellesung und wohl auch daran, dass die Gottesdiensteröffnung nicht mehr mit einem Einzug durch den Klerus verbundene ist, dass das Kollektengebet in seiner zusammenfassenden und abschließenden Funktion nicht mehr so deutlich zu erkennen war. Durch die Neufassung dieser Gebete ist in so mancher Agende daraus ein Gebet geworden, das auf die Schriftlesung vorbereitet. So ist aus dem abschließenden Gebet ein überleitendes Gebet geworden. Solche vorbereitenden und überleitenden Gebete können sich aber auch an vielen anderen Orten, wie z. B. vor der Predigt oder vor dem Kommunionempfang, in den unterschiedlichen Gottesdienstformen finden.
Das Eingangsgebet dagegen steht fast zu Beginn Gottesdienstes. Es führt in den Gottesdienst hinein, „holt" die Gemeinde ab und „stimmt" sie auf das Kommende ein. Eine entsprechende Länge des Eingangsgebets ist dazu notwendig, so kurz und knapp wie das Kollektengebet wird das Eingangsgebet also nicht sein können. Auch orientiert es sich nicht an dessen strengen Schema. Das Eingangsgebet findet man meist in Predigtgottesdiensten, z. B. im württembergischen Predigtgottesdienst, der keine Liturgie im engeren Sinne kennt. In der neuen Agende von 2004 (Gottesdienstbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Erster Teil) folgen nach der Musik zum Eingang ein Lied, das trinitarische Votum, ein Psalm und nun das Eingangsgebet. In der Vorgängeragende von 1988 (Kirchenbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Erster Teil) war der Psalm noch als fakultativ vermerkt, sodass auf das trinitarische Votum hin sofort das Eingangsgebet gesprochen wurde. Nach einem Stillen Gebet folgte die erste Schriftlesung. Als Beispiel soll das Eingangsgebet dienen, das im württembergischen Gottesdienstbuch von 2004 als Beispiel für den Predigtgottesdienstverlauf abgedruckt worden ist: „Herr, unser Gott, wir danken für diesen Tag und sehen ihn als Zeichen deiner Güte. Wir danken dir für die Gemeinschaft in diesem Gottesdienst. Wir bitten dich: Bring unsere Gedanken zur Ruhe, damit wir vernehmen, was du zu uns sprichst. Bring unser Herz zur Ruhe, damit nicht unsere Sorgen, unsere Wünsche und Ängste den Raum füllen, in dem du uns begegnen willst. Lass uns miteinander erfahren, wie unser Leben sich öffnet, wenn es sich dir zuwendet im Hören, Beten und Singen." (55)
Diese Ordnung geht auf den mittelalterlichen Predigtgottesdienst, den Pronaus, zurück. In der Regel wird die Form des Eingangsgebetes auch bei Andachten verwendet, wo sie ebenfalls nach der Begrüßung und ggf. nach einem Psalm gebetet werden, wie es z. B. im EG für die Passionsandachten vorgesehen ist (EG 792). Für diesen Gottesdiensttyp ergibt dieses Gebet in seiner Funktion ebenfalls einen Sinn: Es wird kein Klerus in den Predigtgottesdienst einziehen, insbesondere bei einer Andacht nicht, die im Gemeindehaus oder zu Hause gefeiert wird, sondern die Gemeinde kommt zusammen und beginnt die Feier ohne eine besondere Hervorhebung des Pfarrers oder des Predigenden.
Das bedeutet, dass die beiden Gebetsformen - Kollektengebet und Eingangsgebet - auch zu zwei verschiedenen Gottesdiensttypen gehören und in ihnen jeweils unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Will das Eingangsgebet mit seiner Form und mit seinem Inhalt in den Gottesdienst hineinführen, die Feiernden in den Gottesdienstverlauf hineinnehmen und auf das Kommende zurüsten, so will das Kollektengebet etwas ganz anderes: Es schließt die Eröffnung des Gottesdienstes ab und hat eine zusammenfassende, aber keine überleitende oder mitnehmende Struktur. Die Messe setzt vor den Wort- und Sakramentsteil einen eigenen Eröffnungsteil; dieser kurze Teil ist den beiden nachfolgenden langen Teilen nicht nur vor-, sondern auch untergeordnet. Die Eröffnung initiiert den Wort- und Sakramentsteil. Beim Predigtgottesdienst findet sich solch eine Vor- und Unterordnung nicht: Der ganze Gottesdienst will nichts anderes sein als ein Hören auf das Wort Gottes. Dem dient das Eingangsgebet, das den Beter als Hörer zurüstet, ihn mitnimmt und an das Hören heranführt.