Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.
Johannes 16,22
Ein Wort aus den Abschiedsreden des Johannesevangeliums. Wie vor ihm Jakob und Mose wendet sich Jesus vor seinem Tod an den engsten Kreis der Menschen, die ihn bisher auf seinem Weg begleitet haben. Nun kommt die Zeit, Abschied zu nehmen. Die letzten Worte sind von Gewicht.
Heute klingen Wendungen, die sich über Todesanzeigen finden, oft wie letzte Worte: „Weinet nicht, ich hab' es überwunden", „Wenn ihr mich sucht, sucht mich in euren Herzen" und dergleichen mehr. Meist sind sie als letzte Worte unausgesprochen geblieben. Trauernde legen sie gleichsam ihrem Verstorbenen in den Mund und schöpfen damit Kraft zum Weiterleben. Abschiedsworte begründen Hoffnung. Aber anders als in den meisten Todesanzeigen redet Jesus seinen Jüngern ihre Traurigkeit nicht aus.
Er vergleicht das Erleben der Menschen, die ihm nahe sind, mit den Erfahrungen einer Frau bei der Geburt. Jede Frau, die Mutter geworden ist, hat auch die dunkle Seite einer Geburt erlebt. Sie hat die Schmerzen erlitten und noch weitaus mehr, wenn die Geburt nicht komplikationslos verlaufen ist. Zu einer Geburt gehört für die Mutter das Gefühl, ganz auf sich gestellt zu sein, denn sie und niemand anders wird das Kind zur Welt bringen müssen. Zu einer Geburt gehört die Frage: „Wie lange dauert es jetzt noch?" Zu einer Geburt gehört die Angst, ob mein Leben oder das Leben meines Kindes bedroht sein wird. Mit dem Wort „Traurigkeit" sind diese Erfahrungen des „Ganz-auf- sich-gestellt-Seins", der Schmerzen, der Angst und des „Wie lange noch?" sehr zurückhaltend beschrieben. Den Menschen, die Jesus nachfolgen, steht eine existenzielle Erfahrung bevor.
Aber wenn ein Kind auf die Welt kommt, verwandeln sich von einem Moment auf den anderen Schmerzen und Angst in Freude. Als Mutter habe ich diese Verwandlung bei der Geburt meiner Kinder am eigenen Leib erfahren. Mit dieser Verwandlung beginnt gleichzeitig etwas Neues. Als Eltern werden wir Augenzeugen, wie die Hoffnung auf neues Leben Wirklichkeit wird. Das Kind, das noch nicht auf der Welt war, von dem wir nichts wussten, wird geboren. Es hat ein Gesicht und eine Stimme, es bekommt einen Namen.
Auch unser Leben ist für solche Erfahrungen offen, wie Mütter sie während einer Geburt machen, wie die Menschen um Jesus sie nach seinem Tod machten. Vielleicht wird das Leben gerade an den Stellen wirkliches Leben, wo es durch Fragen und Angst, durch das Gefühl der Verlassenheit und durch Schmerzen hindurch muss. Die Erfahrung eines Verlustes. Eine Lebensfrage, auf die ich endlich eine Antwort gefunden habe. Ein endgültiger Abschied von einem Abschnitt meines Lebens, der mich offen für neue Begegnungen macht.
Vielleicht weist die Verwandlung, die am Anfang eines Lebens steht, voraus auf die Verwandlung, die am Ende des Lebens auf uns wartet. Vielleicht wird auch der Tod so sein: Durch Angst und Schmerzen und Verlassenheit hindurch in ein neues Leben, in dem mich ein Gegenüber anblickt, in dem ich einen Namen habe.
Diese Erfahrung steht Jesus unmittelbar bevor. Er wird durch das Dunkel des Karfreitags, durch Angst und Schmerzen, durch den Tod hindurch zu neuem Leben auferstehen. Nur als der Auferstandene kann er dauerhaft bei uns sein. Wir leben davon, dass er dem Tod nicht ausgewichen ist, sondern sich ganz Gottes schöpferischer Kraft überlassen hat, die ihn aus dem Tod zu neuem Leben auferweckt.
Der Abschied von Jesus aus Nazareth ist für die Menschen um ihn schwer zu ertragen. Jesus nimmt die Traurigkeit seiner Jüngerinnen und Jünger ernst, und er weckt eine große Erwartung, die selbst über die überwältigendsten Erfahrungen des Lebens weit hinausgeht. Wann ist endlich der Tag da, an dem unsere Freude so groß sein wird? Ich erinnere mich daran, dass gerade die letzten Minuten einer Geburt die längsten zu sein scheinen, die schmerzhaftesten und die überwältigendsten. In aller Traurigkeit ist uns große Freude verheißen: ein Wiedersehen, die bleibende Gegenwart des auferstandenen Christus, der im Heiligen Geist unser Begleiter und Tröster ist.