Begegnung mit dem Glanz – eine sperrige Angelegenheit

Im Hebräischen heißt das Wort für „krank" „chole". Chole kommt von dem Begriff „chol", und der heißt „Alltag", eben das Normale, das nicht Besondere, das nicht Heilige. Wir lernen allein aus dieser alten Sprache etwas über den Menschen. Chole - Alltag - krank. Wir lernen: Der Mensch ist normalerweise krank. Heilung, heil sein ist eigentlich die Ausnahme. Diesen „unorthodoxen" Gedanken, Heil-Sein sei eigentlich die Ausnahme, verdanke ich D. Ritschl, dem Grenzgänger zwischen Theologien und Medizin.
Von dieser Ausnahme erzählen die Religionen. Sie erzählen davon, dass mein Alltag in der Begegnung mit Gott Glanz erhält mitten im Mangel. Aber wie kann ich Gott begegnen, damit von diesem Glanz etwas auf mein Gesicht fällt? Die Bibel erzählt ja, dass man Gott gar nicht von Angesicht begegnen könne. Als Mose Gott bittet, seine Herrlichkeit sehen zu dürfen, erhält er zur Antwort: „Mein Angesicht wirst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht."
Mir ist in den letzten Jahren diese biblische Geschichte zum wichtigen Schlüssel geworden. Mose ist auf dem Berg. Er erhält die Gesetzestafeln. Gott geht an ihm vorüber. Mose schließt die Augen. Als Gott vorbei ist, kann er die Augen öffnen. Er darf hinter ihm hersehen. Doch es bleibt ein Glanz auf Moses Gesicht.
Bei einem Vortrag vor Kolleginnen und Kollegen nahm ich diesen Gedanken und einen Gedanken von Martin Heidegger auf: „Predigen ist das lateinische praedicare. Das heißt: etwas vorsagen, dadurch kundtun, dadurch rühmen und so das zu-Sagende in seinem Glanz erscheinen lassen." (Hebel der Hausfreund, Pfullingen 1991, S. 20) So gesehen müsse man es doch den Menschen ansehen, wenn sie aus einem Gottesdienst kommen: Es müsste zumindest ein Rest Glanz auf ihrem Gesicht sichtbar sein.
Ein von mir sehr geschätzter Kollege gab zu bedenken, dass er - je älter er werde, um so deutlicher - auf das „Sperrige" biblischer Texte aufmerksam werde. Ich halte diesen Einwand für mehr als berechtigt, vor allem schon deshalb, weil ich immer wieder höre, wie Kolleginnen und Kollegen bestimmte Perikopen meiden, sich dem „Sperrigen" nicht aussetzen - und damit, so meine ich nun tatsächlich - gar nicht zu dem verborgenen „Glanz" biblischer Gedanken vorstoßen können. Es steht gar zu befürchten, dass diese Vermeidungsstrategie im Umgang mit sperrigen biblischen Texten auch abfärbt auf den Umgang mit „sperrigen" Menschen und Situationen.
Ich habe lange über den Einwand nachgedacht. Er bestärkt mich darin, die „Perikopenpredigt" nachhaltig zu verteidigen - wobei ich mir gelegentlich auch andere „Zuschnitte" wünschen würde und sie in der eigenen Predigtpraxis auch vornehme.
Mir ist das Bild vor Augen, mit welcher Geduld und Zähigkeit - oft genug von Erwachsenen einfältig belächelt - kleine Kinder sich schwierigen Aufgaben stellen, sei es beim Bauen mit Holzklötzchen oder beim selbstständigen Erlernen des aufrechten Ganges. Doch gelingt das schwierige, sperrige Unternehmen, geht ein stilles Leuchten über ihr Gesicht - erst recht, wenn sie sich dabei unbeobachtet fühlen.
Dieses stille Leuchten suche ich in den biblischen Texten, wenn ich mir - zumal angesichts der wenig geliebten 6. Perikopenreihe - sage, dass selbst in dem sperrigsten Text Evangelium, auf dem sperrigsten Menschen der Morgenglanz des 6. Schöpfungstages und auf der schwierigsten Situation eine Verheißung liegt.
In seinem Lehrgedicht „Werke und Tage" erklärt der altgriechische Dichter Hesiod (um 700 v. Chr.) seinem arbeitsscheuen Bruder Peres, dass dem Göttervater Zeus nichts vom Handeln der Menschen entgehe und dass entsprechend die Bösen bestraft werden, den Rechtschaffenen aber Segen zuteil wird. Das Rechte zu tun bedeute allerdings Arbeit und Mühe, denn: „Vor den Verdienst setzten den Schweiß die Götter,/die unsterblichen, lang aber und steil ist der Weg zu ihm hin" (Vers 286 f.).
Bezogen auf das Predigthandwerk: Ohne kontinuierliche theologische Arbeit, ohne das „Sich-Verbeißen" in einen „sperrigen Text", ohne das mühevollen „Dranbleiben" bleibt das Leuchten mehr und mehr aus.
Unsere Softwareprogramme haben wir meistenteils auf „automatische Updates" eingestellt. Das empfiehlt sich auch z.B. bei Exegese und Systematik - sonst sehen wir als „Anwender" am Ende ziemlich alt aus.

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