Wenn Jesus - und das ist unser Glaube - gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zur Herrlichkeit führen.
1. Thessalonicher 4,14
Manche Fragen sind im November lauter als sonst. Sie ziehen durch die kahlen Landschaften, die der Herbst hat entstehen lassen. Sie füllen die leeren Räume und bevölkern die Stille. Sie kommen mit der Dämmerung. Wo sind die Toten? Allerheiligen und Allerseelen. Schon im Auftakt ist dieser Monat den Toten geweiht. Auch evangelische Christen machen in diesen Tagen die Gräber ihrer Lieben winterfest. Überall sieht man die roten Grablichter flackern. Am Volkstrauertag kommen wir wieder. Da stehen wir zwischen den endlos langen Reihen der Kriegsgräber. Kreuz an Kreuz, gleich an gleich, erinnern sie uns an das Massensterben auf den Schlachtfeldern der letzten Kriege. Und doch liegt unter jedem Kreuz eine ganze Welt begraben, ein Mensch mit seiner unverwechselbaren Geschichte. Auf dem Platz vor dem Ehrenmal ist es immer zu kalt. Was der Redner sagt, dringt als weiße Rauchfahne aus seinem Mund. Von einer Verpflichtung zu Frieden und Gerechtigkeit spricht er. Wenn er klug ist, beschwört er auch die Bilder aus dem Fernsehen von Särgen, die mit dem Flugzeug aus Afghanistan gekommen sind. Denn noch jeden Tag fordert ein Krieg seine Menschenopfer. Wo sind die Toten? Am Ewigkeitssonntag, der November neigt sich jetzt schon seinem Ende entgegen, hören wir im Gottesdienst noch einmal die Namen der Menschen, die wir im vergangenen Jahr zu Grabe getragen haben. Immer sind welche dabei, die wir gekannt haben, die einen ganz gut, die anderen nur flüchtig. Wo sind sie geblieben? Novemberfragen.
„Wo sind die Toten?
So haben wir alle gefragt.
Überall wird so geklagt:
Wo sind die Toten?
Wo sind die Toten?
In Grab und in Dunkel gelegt,
wo sich kein Leben mehr regt.
Dort sind die Toten.
Wo sind die Toten?
Weil Jesus vom Tod auferstand,
sind sie in Gottes Hand.
Dort sind die Toten."
Kurt Rommel gibt in diesem dreistrophigen Text zwei Antwortversuche auf die allseits drängende Frage. Die erste lautet: Die Toten, in Grab und in Dunkel gelegt, verwesen und vergehen in der Erde. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Das ist die harte, aber unumgängliche Wirklichkeit, die uns in diesen Tagen auf den Friedhöfen begegnet, an Allerseelen, am Volkstrauertag und am Totensonntag.
Ohne diese Eindrücke außer Kraft zu setzen oder zu relativieren, gibt die dritte Strophe eine ganz andere Antwort: Weil Jesus vom Tod auferstand, sind die Toten in Gottes Hand. Das ist die Wirklichkeit des christlichen Glaubens, wie sie seit zweitausend Novembern über den Gräbern und in den Kirchen verkündet wird. Gegen den Augenschein.
Keine Antwort gibt das Gedicht auf die Frage, wie diese beiden Wirklichkeiten zusammengebracht, zusammengedacht, zusammengeglaubt werden können. Und vielleicht liegt im Verzicht auf derlei Erklärungsmuster ja eine Stärke. Beides hat Gewicht. Beides bestimmt unsere Gegenwart. Beides ist wahr: Verwesung und Auferstehung, volle Gräberfelder und das leere Grab eines auferstandenen Jesus Christus, gefrorene Särge und die Wärme in Abrahams Schoß oder Gottes Hand oder in anderen biblisch zu beschwörenden Bildern.
Mit seiner eher spröden und unaufgeregten Art lädt der Monatsspruch für den Monat November dazu ein, der zweiten möglichen Antwort Glauben zu schenken. Manche Antworten müssen im November lauter und deutlicher ausgesprochen werden. Durch die kahlen Landschaften und in die Totenstille hinein. Für die Trauernden und die Verzagten und die in Ängsten leben: Wenn Jesus - und das ist unser Glaube - gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott durch Jesus auch die Verstorbenen zusammen mit ihm zur Herrlichkeit führen.