Adventsandacht über Lied EG 16 – Die Nacht ist vorgedrungen

Vor der Ansprache: EG 16,1.2

Man spürt es von der ersten Zeile an: Hier spricht einer, der die Nacht kennt. Die Nacht, die Tränen, die Schuld, die Angst. Hier spricht aber auch einer, dessen Augen den Morgenstern entdeckt haben. Sein Herz weiß von dem Licht, das da scheint in der Finsternis. Und es weiß von einer Freude, die, noch in der Nacht, schon den neuen Tag rühmt.

Ich selber habe dieses Lied als Jugendliche kennen gelernt. Ich erinnere mich noch gut daran. Die anrührend schwebende, melancholische, beinah fremdländisch wirkende Melodie mit dem elektrisierenden Quart-Signal am Anfang hat mich spontan in ihren Bann gezogen. Wir hatten damals auf einer Alten-Adventsfeier der Kirchengemeinde zu musizieren. Irgendwann stimmte der Pastor dieses Adventslied an. Mit seinen damals knapp 40 Jahren galt es als relativ neu. Da saßen die alten Männer und Frauen und sangen dieses Lied. Und ich dachte: Gott, wie oft werden diese Frauen und Männer zur Nacht geweint haben in ihrem Leben! Sie hatten zwei Weltkriege miterlebt;
Familienangehörige verloren; die Demütigung erfahren, in die Irre geführt worden zu sein; und die Schuld, durch Krieg unsägliches Leid über Menschen gebracht zu haben. Die politisch-apokalyptische Dimension der Nacht, die hier mitschwingt, war mir als Jugendliche noch nicht so klar. Ich ahnte nur irgendetwas, als ich las, wann das Lied entstanden war: 1938.

Heute weiß ich, dass der Dichter Jochen Klepper seit 1931 mit der Jüdin Johanna Stein verheiratet war. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, verlor Klepper noch im selben Jahr seine Anstellung beim Berliner Rundfunk. Wegen angeblicher „Rassenschande". Beinahe jede berufliche Tätigkeit wurde dem jungen Schriftsteller und Journalisten verwehrt. In dieser Zeit, als sich Nacht auf sein Stück privates und berufliches Glück legte, fand Klepper, der Pfarrerssohn, Trost und Kraft im Wort der Heiligen Schrift. Hier sah sein Auge den hellen Morgenstern aufleuchten, der vom kommenden Tag kündet: Christus. Kleppers geistliche Lieder entstehen in den Jahren 1935 bis 1940. „Mit der Bibel dichten", nennt er es. In dieser Arbeit findet er Trost, Vergewisserung, Sinn. In seinem Tagebuch hält er fest: „Ich schrieb ein neues Kirchenlied, wie oft, wenn mir um Trost sehr bange ist." Neben dem eigenen Trost wünscht sich Klepper, dass seine Kirchenlieder Verbreitung finden und andere trösten. Er, der zeitlebens hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, den Pfarrberuf auszuüben, und dem nach einem freieren, künstlerischeren Beruf - Journalist, Schauspieler, Schriftsteller -, findet im Dichten von Kirchenliedern die Aufgabe, in der beides nah zusammenkommt. Seinem Tagebuch vertraut er an: „Ich bitte Gott immer wieder, dass er aus meinem Schreiben etwas wie ein Pfarramt, dass er aus meinem Familienleben und unserem Haushalt etwas wie ein Pfarrhaus mache."

Dreizehn Lieder haben wir von ihm im Gesangbuch. Ungezählten Menschen sind sie zum Trost und Halt geworden. Zu guten Begleitern, in deren Worten sich Gott selbst denen zur Seite stellt, die den Morgenstern erblicken und Gottes Tag herbeisehnen.

Entwürdigende Repressalien bedrängen mit den jüdischen Familien in Deutschland auch den Dichter und seine Familie mehr und mehr. Im September 1941 wird Klepper nach neun Monaten bei der Wehrmacht wegen seiner Ehe als „wehrunwürdig" entlassen. Seitdem denkt er an Selbstmord als letzten Ausweg. 1942 feiert die Familie Advent in einer unfassbaren Spannung von Freude und Angst, Verzweiflung und Glauben. „Hanni und ich wissen doch nun, wie furchtbar man noch einmal an Gott verzweifeln musste -", schreibt er, „aber wir können nicht zweifeln, können vom Glauben nicht los, nachdem er doch so schmerzhaft in uns geschieden ist von irdischer Hoffnung …" Die ältere Tochter Brigitte hatte nach England auswandern können. Die jüngere Tochter Renate erhält 1942 endlich die Einreiseerlaubnis nach Schweden. Aber der Chef des Sicherheitsdienstes verweigert die Ausreise und erklärt Klepper, dass er mit Zwangsscheidung und Deportation von Frau und Tochter rechnen müsse. Die Kleppers machen ihr Testament. Sie besprechen alles mit den nächsten Vertrauten. Als letzten Eintrag lesen wir im Tagebuch:
„Wir sterben nun - ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben."

Aber die eine große Bitte, dass aus seinem Schreiben etwas wie ein Pfarramt werde, diese Bitte wurde ihm erfüllt. Im Advent 2009 singen wir als christliche Gemeinde sein Lied. Wir sind über den Tod hinweg und durch Dunkelheit hindurch verbunden in der Hoffnung.

16,3 „Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf!"

Wieder sagt uns der Dichter die Zeit an. Er tut es hier so froh und gewiss, dass man sich tatsächlich am liebsten gleich in Bewegung setzen möchte und der Aufmunterung folgen: „Macht euch zum Stalle auf!" Die Strophe schickt uns schnurstracks in die Weihnachtsgeschichte hinein. Wie die Hirten sollen wir uns aufmachen, der großen Freude entgegenlaufen. „Ihr werdet finden das Kind", hat der Engel den Hirten versprochen. Das Lied trägt diese Verheißung weiter zu uns: „Ihr sollt das Heil dort finden."

Was ist das Heil? Dass Gott sich mit uns Menschen verbündet hat. In dem Menschen Jesus. Einen Bund hat er geschlossen. Partei ergriffen für uns! Nicht, als ob er damit alles gutheißen würde, was wir in dieser Welt und in unserem Leben so anrichten. Gerade Kleppers Lieder werden nicht müde, von Schuld zu sprechen. Aber Gott hat es mit unserer Schuld aufgenommen, um sie uns abzunehmen. Um neues, verändertes, heilsames Leben möglich zu machen. Wir haben einen Verbündeten. Unser Leben ist an diesen gebunden. Und unser Sterben auch. Ein neugeborenes Kind. Der Morgenstern. Er kündet vom kommenden Tag.

16,4.5 (Noch manche Nacht wird fallen)

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