Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.
3. Mose 19,18
Franz von Assisi soll einst geäußert haben: „Wenn du einen Armen vor dir hast, so musst du in ihm den sehen, in dessen Namen er kommt, nämlich den Heiland, der unsere Schwachheit auf sich genommen."
Ähnlich klingt die heilige Elisabeth, die gegenüber ihren Gefährtinnen äußerte, als sie Kranke gebadet und ihre Wunden gesalbt und verbunden hatte: „Wie froh müssen wir darüber sein, dass wir auf diese Weise unseren Herrn baden und bedecken dürfen." Man denke an Amalie Sieveking, die Begründerin der modernen weiblichen Krankenpflege, an Mathilde Wrede, die Helferin und Trös-terin der Gefangenen in Finnland, an Elsa Brändström, den „Engel Sibiriens", die Tochter eines schwedischen Diplomaten, die im Ersten Weltkrieg Tausende von deutschen Kriegsgefangenen betreute und nachher Mutter von Hunderten von deutschen Kriegswaisenkindern geworden ist. Man denke an die Vinzentinerinnen, genannt „barmherzige Schwestern", und an Diakonissen, die auf Besitz, Ehe, Familie und alles andere Glück verzichten, um sich den notleidenden Mitmenschen zu weihen, um den Kranken und Armen zu dienen, zu helfen, zu heilen, zu tragen und zu trösten. Die Nächstenliebe gehört zum Wesenskern des christlichen Glaubens. Das „Du sollst" hat sich tief eingegraben in den Charakter von Christen, in die Arbeit der Kirchen und darüber hinaus in unsere Kultur.
Dennoch ließ auch der Protest nicht lange auf sich warten. Nicolo Machiavelli erklärte in der Renaissance, ein Fürst dürfe sich nicht scheuen, grausam zu sein und als grausam zu gelten, er müsse, einem halb menschlichen, halb tierischen Zentauren gleich, je nachdem wie es die Umstände fordern, die Rolle des Menschen oder der Bestie spielen. Nietzsche steigert das Ganze noch, indem er im Zarathustra zum Besten gibt: „Höher noch als die Liebe zu Menschen gilt mir die Liebe zu Sachen und Gespenstern ... Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist! Also, sprach der Teufel einst zu mir: ,Auch Gott hat seine Hölle: das ist seine Liebe zu den Menschen.' Und jüngst hörte ich ihn dies Wort sagen: ,Gott ist tot; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.' ,Mich selber bringe ich meiner Liebe dar, und meinen Nächsten gleich mir', so geht die Rede allen Schaffenden. Alle Schaffenden sind hart."
Da tut sich eine Spannung auf, die nicht zu schnell eingeebnet werden kann. Woran entzündet sich der Protest? Ist die Nächstenliebe dem politischen Leben nicht gewachsen, wie Macciavelli nahelegt? Und was bleibt uns, wenn Nietzsche gar die Preisgabe Gottes und des Menschen durch Nächstenliebe proklamiert? Wie kann es sein, dass der Mensch sich aus Liebe aufgibt? „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr." In der biblischen Überlieferung wird die Liebe mit der Achtung, dem Respekt, dem Heiligen, das Gott selbst ist, verknüpft. „Ich bin der Herr." Die Würde des Menschen ist wie Gott selbst unantastbar. Kommt in manchen Ausprägungen der christlichen Liebe die Erfahrung des Heiligen, des Unberührbaren, die Erfahrung Gottes selbst zu Schaden? Nach der biblischen Tradition bedarf die Nächstenliebe der Erfahrung des Heiligen, auch des Heiligen in mir selbst. Ebenso bedarf das Heilige der Liebe. Sie allein führt zur Hilfe, die wirklich hilft, führt zur Berührung, die respektvoll und im tieferen Sinne zärtlich ist. Das Heilige und die Liebe, die von Gott bis zu uns reicht, lässt uns lernen, was Nächstenliebe ist. Durch Jesus Christus reicht diese geheiligte Liebe über Franz von Assisi bis zu uns heute und führt zu Aufbrüchen in der Diakonie und im Miteinander der Menschen. „Noch im schlammigen Antlitz harret das Gott-Licht seiner Entfaltung" (Franz Werfel). Das sollst du, Mensch, immer wieder entdecken und beherzigen.