Menschen haben eine tiefe Sehnsucht nach Wahrheit und eine große Scheu vor der Wahrheit. Unser Verhältnis zu Karfreitag ist gespannt. Wir kommen und suchen die Wahrheit, und doch ertragen wir sie nicht.
Hier stimmt im Besonderen der Satz des früheren Erzbischofs von Mailand, Carlo Maria Kardinal Martini (geb. 1927): „Die Kirche befriedigt nicht Erwartungen, sie feiert Geheimnisse." Und der Karfreitag, das, was da geschieht, zu unserem Heil geschieht, ist das wohl größte Geheimnis.
Es ist ein innergöttliches Drama, nicht nur, wie es an der Oberfläche scheint, eine politische, eine menschliche Tragödie. Wie kann man meinen, man könne an einem Mysterium teilhaben, indem man es versteht? Die Wahrheit des Karfreitags ist tiefer, sie ist ein innergöttliches Drama, das wir nicht verstehen. Das wir eigentlich unerträglich finden.
Die Wahrheit des Karfreitags lässt einen Augenblick lang tief ins Innerste der Welt, tief ins Innerste der Menschen, tief ins Innerste Gottes blicken. Und was wir sehen, ertragen wir nicht: Wir sehen, die Macht des Todes ist riesig. Die Gemeinheit ist mächtig. Der Egoismus ist widerstandsfähig. Gott kommt an seine Grenze. Es geht Gott ans Leben.
Wir alle arbeiten an glatten Lebensläufen. Wenn wir unser Leben entwerfen, Pläne schmieden, Träume träumen, dann wünschen wir uns und unseren Kindern einen leidfreien Lebenslauf.
Leid wird verdrängt, verharmlost, versteckt. Weil wir die Wahrheit nicht ertragen können, gehen wir dem Leid aus dem Weg. Glatte Lebensläufe. Bis zur Vereinsamung glücklich. Bis zur Selbstverleugnung zufrieden. Bis zum Selbstbetrug erfolgreich. Bis das Loch in mir so groß ist, dass man mich wegholt in Krankenhäuser, Heime, Anstalten, Gefängnisse. Aus dem Weg räumt. Damit mein nicht mehr zu verbergendes Leid anderen nicht zum Anstoß wird.
So wie wir die eigene Blöße nicht ertragen, so ertragen wir Gottes Blöße nicht. Ohne Schonung deckt der Karfreitag Gottes Blöße auf. Gott ist verwundbar.
Viele versuchen, dieser Vorstellung, Jesus sei ein Opfer für uns, etwas von ihrem Schrecken zu nehmen. Sie sagen, Jesus sei ein Märtyrer. Er habe sich schützend vor die Freunde gestellt, habe sich eingesetzt für den Sieg der Liebe bis zuletzt, so konsequent für diese Idee gelebt bis zum eigenen Tod.
Es gibt sie, und ich will sie auch ehren und achten, die Märtyrer, von Stephanus bis Martin Luther King, von Johannes Hus bis Dietrich Bonhoeffer, von den schottischen Mönchen bis Pater Maximilian Kolbe. Sie und viele Unbekannte haben ihr Leben gelassen für den Glauben, für den Frieden, für Kinder. Aber von keinem wird gesagt: Er trug unsere Sünde.
Die Jünger lesen bei Jesaja in der jüdischen Bibel die Lieder vom Gottesknecht. Und Zug um Zug tasten sie sich an die Wahrheit des Karfreitags heran. Ihr bisheriges Gottesbild hatte den Blick verstellt.
Und nun verstehen sie: Das Entsetzliche - war der Wille Gottes. Geschehen um der Opfer und um der Henker willen. Geschehen um des Friedens und um der Friedlosen willen.
Stück um Stück bröckelt ihr altes Gottesbild, ihr Wunschbild von Gott. Je näher sie der Wahrheit des Karfreitag kommen, je näher sie der Wahrheit Gottes kommen, umso offener erkennen sie auch die Wahrheit über sich selbst.
Von unserem Tun ist nicht zu reden an Karfreitag.
Was wir richtig oder falsch machen. Was wir schuldig geblieben sind oder nicht.
Es ist von Gott zu reden, von seinem Sohn und dem, was für uns geschieht. Ich wünschte mir, dass wir dem einmal länger standhalten. Dass sich da nicht gleich wieder so vieles über die Blöße Gottes legt. Über den Schmerz Gottes.
Ich wünsche den Leserinnen und Lesern der PASTORALBLÄTTER gesegnete Passions- und Ostertage in der Hoffnung, die vorliegende Ausgabe möge sie dabei hilfreich begleiten.