Wir können's ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.
Apostelgeschichte 4,20
Was haben wir gesehen?
Müde Augen. Abgearbeitete Hände. Verzweifelte Blicke. Ausgeträumte Träume. Leere Konten.
Gescheiterte Ehen. Hilflose Helfer.
Was haben wir gesehen?
Strahlende Augen. Fleißige Hände. Aufmunternde Blicke. Blühende Träume. Neue Spendenrekorde. Strahlende goldene Hochzeiter. Ausgezeichnete Lebensretter.
Wir sehen wohl meist das, was wir sehen wollen. Das Auge ist kein wirklich objektives „Organ". Das Ohr geht tiefer, ist feiner. Wir sehen - mit dem Monatsspruch im Mai - durch die Pfingstbrille. Wir sind als Christinnen und Christen infiziert, angesteckt von der guten österlichen Nachricht. Wir sind von Gott begeistert. Wie könnten wir da schweigen.
„Julius kann noch nicht lesen. Und doch ist sein größter Schatz ein Buch. Den Inhalt versteht der Neunjährige so wenig wie den der gelben Pillendose seiner Mutter. Aber er weiß, dass beides wichtig ist. Deshalb passt er auf das Buch ebenso gut auf wie er darauf achtet, dass seine Mutter regelmäßig - jeden Tag bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang - ihre Tabletten nimmt.
Das Buch hängt in einer Plastiktüte an einem Pfosten inmitten der runden Lehmhütte. Dort, wo es nicht nass wird, wenn der Regen durch das Strohdach dringt. Wo es nicht zwischen die von Hand geflochtenen Matten gerät, wenn neun Menschen in dem engen Raum ihr Nachtlager ausbreiten. Und wo es sicher ist vor den Hühnern, den Ratten.
‚Dieses Erinnerungsbuch ist für Okanya Julius', steht auf dem blauen Titelblatt. Es ist das einzige Buch, das die Familie besitzt, geschrieben von Mutesi Getu, am 16. Februar 2006. Von Julius' Mutter. Ihre Worte füllen das 40 Seiten starke Ringbuch, aber die flüssige Handschrift stammt von einer ihrer Töchter. Denn Getu ist Analphabetin." (Geo, 2008/5, S. 171)
Getu, die Mutter von Julius, ist nicht nur Analphabetin, sie hat auch Aids und keine lange Lebenserwartung mehr. Ohne die gelbe Pillendose würde es Getus Buch nicht geben. Am 6. April 2005 hat sie zum ersten Mal virushemmende Aids-Medikamente eingenommen, damals war sie zu schwach, um ihr Feld zu bestellen, konnte nicht einmal kochen. Bis zur letzten Seite hat Getu das Erinnerungsbuch gefüllt. Ein Lebenswerk, geschaffen in nur fünf Tagen. In Getus Erinnerungsbuch für Julius steht zum Beispiel: „Ich hatte nicht das Glück, elterliche Liebe zu erfahren wie ihr, meine Kinder. Denn meine Mutter gab uns fort, als ich noch jung war, nur sechs Jahre alt. Weil sie sich nicht um uns kümmern konnte, kamen wir zu meinem Onkel Emodo in das Dorf Bugodi. Dort wuchsen wir auf und arbeiteten als Hausmädchen, bis wir in das Alter kamen zu heiraten.
Michael, dein Vater, war ein höflicher, gutherziger und disziplinierter Mann, der gern Menschen zusammenbrachte und an Gott glaubte. Er mochte keinen Streit und keinen Alkohol. In seiner freien Zeit hat er deinen älteren Geschwistern lesen und schreiben beigebracht."
Tausende Erinnerungsbücher sind in den vergangenen zehn Jahren in Uganda entstanden. Seither sind mehr als eine Million Menschen an dem Virus gestorben und mindestens zwei Millionen Kinder verwaist. Viele von ihnen leben bei Verwandten oder in Haushalten, in denen sich allein noch die älteren um die jüngeren Geschwister kümmern. Dort also, wo niemand mehr ist, der ihnen berichten könnte von den Bräuchen der Familie, von den ersten eigenen Worten und Schritten, von unbeschwerten Tagen mit Mutter und Vater.
In einer Kultur, die stets mündlich weitergegeben wurde, sollen die Worte der Älteren festgehalten werden in Büchern für die Kinder. Auf weißem Papier nehmen die Verstorbenen Gestalt an, aber auch das Leben und die Identität der Kinder: eine Antwort darauf, wer sie sind. (a. a. O., S. 173)
Jedes Leben ist der Erinnerung wert. Tausend Mal wichtiger als Bauplatz und Sparbuch. Ich möchte wissen, was meine Mutter, was mein Vater, der Schneider, und was mein Großvater, der Goldschmied war, gedacht haben über Gott und die Welt. Menschen müssen doch Spuren hinterlassen bei denen, die nach ihnen kommen. Spuren in den Herzen und nicht nur Einträge auf dem Grundbuchamt. Ich denke mir oft: Was legt ihr es denn darauf an, Besitz zu hinterlassen für die Kinder und Enkel. Das ist es doch nicht, was ihnen fehlt.
Ich erlebe es nun seit vielen Monaten, wie fast jeden Tag eines unserer Kinder meine Mutter (87) besucht. Nur für ein oder zwei Tassen Kaffee. Jeden Tag. Und meine Mutter erzählt den Enkeln. Vieles wiederholt sich. Das ist im Alter so. Es ist großartig, wenn Kinder und Enkel fragen. Es ist großartig, wenn Ältere, Mütter, Väter, Großeltern, gefragt sind.
Kinder, fragt eure Eltern. Fragt eure Großeltern Löcher in den Bauch. Ihr glaubt nicht, wie schön es für Eltern und Großeltern ist, wenn sie spüren: Ich bin gefragt.
Und ihr, liebe Erwachsene: Erzählt eure Geschichte. Erzählt eure Geschichte mit Gott. Erzählt eure Geschichte mit der Bibel. Erzählt euer Leben und was euch wichtig geworden ist. Wir Christen sind eine Erzähl- und Hörgemeinschaft.