Eine Andacht ist eine kleine liturgische Form. Mit einer Andacht halten Menschen inne. Mit ihr wird ein kleiner Zeitraum gefüllt. Der normale Ablauf von Handlungen wird unterbrochen. Durch diese Unterbrechung entsteht ein Vorher und ein Danach. Die Andacht schafft und gestaltet ein „Zwischen". Sie strukturiert Zeit.
Andacht als rite de passage
Die Andacht ist ein Ritual. Sie kann als ein rite de passage begriffen werden. Sie ist angesiedelt im Übergang von einer vorgegebenen Lebenssituation zu einer anderen. Sie gestaltet z. B. das „Zwischen" von Ruhe der Nacht und Arbeit am Tag. Durch die Andacht bekommt der Übergang von der Nacht zum Tag (Morgenandacht), vom Tag zur Nacht (Abendandacht), von einem Tagesabschnitt zu einem andern (Andacht am Beginn einer Sitzung, einer Veranstaltung), von einem Ort zu einem andern (Reisesegen) eine besondere Form.
In der Regel bezieht sich die Andacht auf eine vorgegebene Schwellensituation. Sie kann eine solche aber auch durch ausdrückliche Unterbrechung des Handlungsablaufs schaffen. Durch die Andacht kann ein nicht einfach objektiv vorgegebener, sondern subjektiv gewählter Übergang als solcher inszeniert werden. Es handelt sich dann um Phasen des Innehaltens mitten am Tag, mitten in der Woche, mitten auf dem Weg. Diese selbstbestimmten Unterbrechungen schaffen aber auch ein Davor und ein Danach.
Jeder Übergang enthält das Moment der Unsicherheit, womöglich auch der Gefahr. Gelingt der Tag, die Reise, die Arbeit? Die Unsicherheit kommt aus der Offenheit der Zukunft. Sie kann aber auch daher kommen, dass verschiedene Menschen von unterschiedlichen Orten sich an ein gemeinsames Werk machen. Eine Andacht kann ein Ritual sein, das die jetzt zu gemeinsamer Aktivität Verbundenen aufeinander und das Vorhaben einstimmt. Sie schafft einen gemeinsamen Beginn. Andachten dienen der Orientierung und Vergewisserung in Schwellensituationen.
Andachten können vielfältig gestaltet werden. Das Evangelische Gesangbuch gibt unter Nr. 790 (Baden, Pfalz, Elsaß-Lothringen) einige Hinweise: Lied, Lesung, Gebet … Die elementare Struktur und Funktion einer Andacht kann man sich an Luthers Morgensegen (EG 808.1) bzw. Abendsegen (814.1) verdeutlichen - und davon für die eigene Andachtspraxis lernen.
„Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen:
Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen.
Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser.
Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen:
Ich danke dir, mein himmlischer Vater,
durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn,
dass du mich diese Nacht
vor allem Schaden und Gefahr behütet hast,
und bitte dich,
du wollest mich diesen Tag auch behüten
vor Sünden und allem Übel,
dass dir all mein Tun und Leben gefalle.
Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele
und alles in deine Hände.
Dein heiliger Engel sei mit mir,
dass der böse Feind keine Macht an mir finde.
Als dann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen oder was dir deine Andacht eingibt."
Der Text von Luthers Morgensegen beschreibt einen „rite de passage" für den Übergang vom Ende der Nacht zum Beginn der Arbeit am Tag. Die Beschreibung enthält nicht nur Worte, sondern auch Gesten. Luther stellt das von ihm formulierte Gebet ins Belieben dessen, der mit dem Morgensegen den Tag beginnt. D. h., es hat exemplarische Funktion und drückt aus, was im Ritual des Morgensegens durch Bekreuzigung, Glaubensbekenntnis und Vaterunser so und so geschieht. Es kann deswegen auch als Deutung des kleinen Rituals verstanden werden.
Das Luthergebet mit seinen zwölf Zeilen ist klar gegliedert. Die Zeilen 1 - 4 schauen zurück. Sie formulieren den Dank für die Behütung in der vergangenen Nacht. Die folgenden Zeilen 5 - 8 blicken demgegenüber nach vorne auf den kommenden Tag. Sie sind als doppelte Bitte gestaltet. Gott möge vor allem Übel, das begegnen kann, behüten und das eigene Tun des Beters in der Konformität mit seinem Willen halten, also vor der Sünde bewahren. Rückblickender Dank und vorausblickende Bitte sind ein wichtiges Element für die Gestaltung des Übergangs von der Nacht zum Tag.
Rückblick und Blick nach vorne sind aber nicht von gleichem Gewicht. Der Blick nach vorne in den Tag hinein hat die größere Bedeutung. Deswegen folgt in Zeile 9 - 10 eine „Anbefehlung". Dies ist ein Vertrauensbekenntnis in einer starken und bildhaften Form. Die eigene Person in ihrer Ganzheit (Leib und Seele) wird ebenso wie „alles", also die Totalität des Lebens und der Welt, Gott übergeben und in die Hände gelegt.
Das Gebet schließt in den Zeilen 11 und 12 mit einer Art Selbstsegnung. In ihr wird die „Anbefehlung" persönlich angeeignet. Was sonst andere zusprechen (vgl. Tobit 5,23) und wünschen, dass der Engel die angesprochene Person geleiten möge, spricht sich der Beter selber zu. Die „Selbstsegnung" fasst die Bekreuzigung am Anfang des Rituals in Worte und hat neben Tauferinnerung und Versicherung der Zugehörigkeit zu Christus gewiss auch eine elementar religiöse, das Böse abwehrende Funktion.
Durch die Zeilen 9 - 12 versichert und vergewissert sich der Beter selbst, dass er umgeben und begleitet von Gott seinen Tag beginnt und bestehen wird. Deswegen kann es dann am Schluss, gewissermaßen als Effekt des Gebetes heißen: „mit Freuden an dein Werk gegangen". Das Lied, das „etwa" gesungen werden kann, ist Ausdruck dieser Freude. Dass es ein geistliches Lied sein muss, steht bei Luther nicht.
Andacht inszeniert einen „Segensraum"
Was ist von Luthers Morgensegen für die Gestaltung einer Andacht zu lernen? Die Andacht, die eine Schwellensituation gestaltet, blickt immer zurück und nach vorne. Sie benennt den eigenen Ort als Situation des Übergangs. Sie enthält Dank und Bitte. In der Regel wird der Blick nach vorne das größere Gewicht haben. Denn die Andacht zielt darauf, dass der Weg nach vorne „mit Freuden" gegangen werden kann. Dem dienen einmal Elemente des Bittgebetes mit seiner doppelten Erinnerung, dass Gefahr sowohl von außen kommen kann („Übel") und von auch Innen („Sünde", „dass dir all unser Tun und Leben gefalle"). Dem dient aber vor allem, die Selbstversicherung und -vergewisserung, dass „alles" in Gottes Hand ist. Wie Luthers Morgengebet zielt der rite de passage „Andacht" darauf, dass das Bevorstehende mit Vertrauen auf Gott bewältigt und bestanden werden kann. Die Andacht inszeniert einen „Segensraum" (Ulrike Wagner-Rau) für den jetzt zu beginnenden Weg.
Wer es etwas technisch haben will, kann anhand von Luthers Morgensegen fast eine „Checkliste" aufstellen und überprüfen, ob und wie die eigene Andacht den Übergang gestaltet. Wie enthält sie den Blick zurück und den Blick nach vorne auf das, was jetzt ansteht? Wie markiert sie den eigenen Ort als Schwellensituation und stimmt unter Umständen die von verschiedenen Richtungen Zusammenkommenden auf die neue Situation ein? Wie vergewissert sie für das Anstehende durch die Erinnerung an Gottes Macht und Segen?
Die Andacht ist eine kleine Kasualie. Was der Fall ist, wird mit Gottes Wort verbunden. Gottes Wort fällt durch diese Verbindung mitten ins Leben.