Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen.
Offenbarung 3, 8
Ich sehe die junge Frau mit ihrem Koffer quer über den Bahnsteig rennen. Einmal stolpert sie beinahe, weil sie wegen ihres Gepäcks fast das Gleichgewicht verliert. Scheinbar gerade noch rechtzeitig erreicht sie eine der hinteren Türen des Zuges. In diesem Moment ertönt die Stimme über Lautsprecher: „Bitte zurücktreten! Achtung, Türen des Zuges schließen selbsttätig!" Verzweifelt rüttelt die Frau am Türgriff. Doch es ist zu spät. Die Waggontür lässt sich nicht mehr öffnen. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Enttäuscht, mit hängenden Armen und noch ganz außer Atem steht sie neben ihrem Koffer und sieht dem Zug nach, der aus dem Bahnhof rollt. Gerade noch rechtzeitig am Zug, war sie doch schon zu spät. Die Türen waren bereits verschlossen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Eine ganz normale Alltagssituation. Und doch ist die Begebenheit ein Bild für viel mehr. Vor verschlossener Tür zu stehen, wenn wir uns wünschen nach innen zu gelangen, ist eine frustrierende Erfahrung. Wir fühlen uns ausgeschlossen, zurückgelassen, abgewiesen oder unerwünscht. Meist haben wir, ähnlich der jungen Frau, vergebliche Kraft verwendet, um hineinzukommen. Bei anderen Menschen vor verschlossener Tür zu stehen ist enttäuschend genug. Doch um wie viel schlimmer muss noch vor einigen hundert Jahren die Angst vieler Menschen gewesen sein, eines Tages auch bei Gott vor verschlossener Tür zu stehen. Da ist es wenig verwunderlich, dass viele durch ihr Verhalten versuchten, möglichst gottgefällig zu leben, um deshalb im Anschluss an ihr irdisches Leben in Gottes Reich aufgenommen zu werden. Seither hat sich das Glaubensverständnis der meisten Christinnen und Christen verändert.
Luther gelangte nach langem inneren Kampf und intensivem Studium des Neuen Testaments zu der Erkenntnis, dass Gott uns so annimmt, wie wir sind, aufgrund unseres Glaubens, unabhängig von unserer Leistung und unserem Handeln. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott uns eine Tür aufgetan hat, die niemand mehr zuschließen kann.
Und dennoch beobachte ich, dass viele Menschen immer schneller und hektischer leben. Sie wirken wie Getriebene, die versuchen, auf jeden Zug aufzuspringen, um ja nichts zu verpassen. Vielleicht sind sie der Ansicht, dass sich mit dem Tod die letzte Tür ihres Lebens endgültig schließt, ohne dass sich zugleich eine neue Tür öffnet. Für sie ist der Tod wie die letzte Lebenstür, die ins Schloss fallen wird. Danach wartet das unendliche Nichts. Also gilt es, das Leben auszuschöpfen, um mitzunehmen, was geht. Dabei packen sie alle Eindrücke und Informationen, denen sie sich aussetzen, in ihre Koffer. Ihr Gepäck wird immer schwerer. Irgendwann wird es zum Ballast, der kaum noch transportabel ist. Wer so beladen durch das Leben hastet, wird irgendwann völlig erschöpft sein. Zugleich läuft er Gefahr, all die offenen Türen zu übersehen, die hier und jetzt, mitten im Leben schon Hinweise geben auf jene Tür, die am Ende unserer Tage für uns offen stehen wird.
Wann ertappen wir uns dabei, dass wir durch unser Leben hasten wie Getriebene, die vergessen haben, dass nach diesem Leben Gottes Ewigkeit auf uns wartet? Wann laufen wir vielleicht aus Angst, etwas zu verpassen, an manch offener Tür vorbei und merken gar nicht, dass sie eigentlich nur für uns geöffnet war? Oder wann glauben wir, nur durch jene Türen gehen zu können, die wir selbst geöffnet haben? Dann wird es höchste Zeit, unser Leben zu entschleunigen und wieder achtsam zu werden für all die offenen und angelehnten Türen mitten im Leben. Wenn wir bei ihrem Durchschreiten und dem Eintritt in neue Räume auch die Tür unseres Herzens öffnen, dann wächst unsere Gewissheit, dass Gott uns an der letzten Tür mit offenen Armen erwarten wird. Er tut das ohne Hast, sondern geduldig, bis es an der Zeit ist, dass wir ihm entgegengehen.