Ein Gedanke des deuteronomischen Gesetzgebers lässt mich aufhorchen. Den Hinweis darauf verdanke ich R. Kessler, Die Rolle des Armen für Gerechtigkeit und Sünde des Reichen, in: F. Crüsemann (Hg.), Was ist der Mensch, Festschrift für H. W. Wolff zum 80. Geburtstag, München 1992, S. 156.
Zuerst der biblische Gedanke:
Wenn du deinem Nächsten irgendetwas borgst, so sollst du nicht in sein Haus gehen und ihm ein Pfand nehmen, sondern du sollst draußen stehen und er, dem du borgst, soll sein Pfand zu dir herausbringen.
Ist er aber bedürftig, so sollst du dich nicht schlafen legen mit seinem Pfand, sondern sollst ihm sein Pfand wiedergeben, wenn die Sonne untergeht, dass er in seinem Mantel schlafe und dich segne. So wird das deine Gerechtigkeit sein vor dem HERRN, deinem Gott. (5. Mose 24,10-13)
Es geht um Armut und um Dankbarkeit, um Segen und Gerechtigkeit.
Es ist der Gedanke, dass dich der segnet, der etwas von dir annimmt. Nicht umgekehrt. Nicht du bist also ein Segen für ihn, sondern er ist ein Segen für dich. Ich bin dir dankbar, dass ich mit dir teilen durfte. Teilen zu können - das ist ein Segen. „… dass er in seinem Mantel schlafe und dich segne."
Über einen Beitrag zum St. Martinstag in dieser Ausgabe erinnerte ich mich an diesen eigenartigen Gedanken.
Er begegnet uns in verschiedenen Varianten im AT. Wer nachlesen möchte, Rainer Kessler nennt u. a. folgende Stellen: Hiob 29,12ff, Hiob 31,19-22, Sprüche 22,9, Rut 2,19.20 oder mag „R. Kessler, Die Rolle des Armen" „googeln". Hier tut sich ein theologischer Schatz auf, der im Diskurs über Sponsoring, Spendenwesen und unsere Ökonomie noch nicht gehoben ist.
Wer unser Teilen annimmt - unsere Gabe, unser Geschenk, dem sollten wir dankbar sein, nicht umgekehrt. Denn er ist uns ein Segen.
Wer dienen will, bedarf des anderen, dem er dienen darf. So haben wir zu denken. So denkt das traditionelle Judentum. So glauben auch wir Christen.
Das klingt fremd für meine Ohren.
Mein Ohr hört: Was du hast, das hast du.
Meine Augen sagen: Was du willst, das nimm dir.
Mein Herz meint: Was ich bin, das bin ich!
Meine Nieren sagen: Wer nicht will, hat gehabt.
Wer bin ich?
In einem alten hebräischen Bekenntnis heißt es:
Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremder mit wenig Leuten. (5. Mose 26,5)
Sie gingen damals auch schon auf Umwegen.
Aber sie nannten den Umweg Umweg und nicht Hauptstraße.
Sie waren damals schon am Ende.
Sie nannten das Ende peinlich und nicht großartig.
Und sie haben sich auf Umwegen durchgebissen.
Angewiesen auf Hilfe. Fern vom Segen ihres Gottes. Bar aller eigener Lösungen. Und doch ohne den Verlust des Stolzes: Ich bin ein Kind Gottes. Ich gehöre zum Volk Gottes. Und war nicht seit Abraham, Isaak und Jakob der Segen Gottes mit ihnen?
So kommt von den Alten auf uns eine Erinnerung, dass nicht die Einschaltquoten zählen, sondern das wirkliche Leben.
Dass nicht die Spender zählen, sondern die Opfer.
Nicht die Lieder zählen, sondern das Herz, das sie begehrt.
Nicht die Fakten zählen, sondern was morgen noch bleibt.
Dass wir uns nicht mit unseren Spenden „gerecht machen", sondern das eigentliche Subjekt des Vorgangs
- z. B. bei der Aktion BROT FÜR DIE WELT - der andere ist, der über meine Gerechtigkeit entscheidet, indem er meine Spende annimmt.
Wer Segen auf das Vordergründige verrechnet, der verrechnet sich.
Schon wer Gaben zu messen beginnt, verrechnet sich.
Segen ist frei von Erfolg.
Segen weiß nichts vom Ergebnis.
Segen ist der an Gott gerichtete Dank, die Quelle alles Gebens. Aus ihm ist alles, was ich schenken, teilen oder spenden könnte.
Segen ist, dass Gott da ist und du da bist und ein anderer da ist, der dich braucht. Das ist ein Segen, dass dich einer braucht.
Und dass ihr beide - Gott und du - Gutes tut.
Und dass da jemand ist, für den sich Himmel auftut und nicht die Erde.
Als ich vor 2 ½ Jahrzehnten mit Kinder eine Spendenformel beim Weiterreichen von Brot und Traubensaft in der Abendmahlsrunde suchte und wir uns „verständigen" konnten auf den Satz: „Ich teile mit dir, was Gott uns schenkt", war mir die ganze Weite und Tragweite dieses Gedankens noch nicht bewusst. Heute verstehe ich mehr und mehr die Tiefe (theologisch, ökologisch, ökonomisch) dieses scheinbar „einfachen" Satzes.
Und so erst verstehe ich, was ich in jüdischen Texten lese:
Dich segnet, wer etwas von dir annimmt.
Er oder sie - sie könnten auch ablehnen, deine Gabe zurückweisen, dich stehen lassen. Nicht du bist ihm ein Segen - er ist dir ein Segen
Du konntest einem Menschen helfen.
Du hast weitergegeben, was Gott dir gab.
Du bist ein Mitmensch.
Ein Ort Gottes.
Was gibt es mehr?
Freu dich darüber!