Ich bin dankbar, von Religionslehrerinnen und Religionslehrern unterrichtet worden zu sein, für die das Singen und Auswendiglernen von Chorälen noch selbstverständlich zum Religions- und später auch zum Konfirmanden-unterricht gehörte. So manches Paul Gerhardt-Lied hat sich mir dadurch tief eingeprägt. Eines davon ist der Choral „Befiehl du deine Wege ..." - und zwar mit all seinen zwölf Versen.
Der durchdachte Aufbau der einzelnen Strophen, die - als Akrostichon - jeweils mit einem Wort aus Psalm 37,5 beginnen, hilft mir bis heute, das Lied problemlos zu erinnern. Es ist das einzige Lied, das ich vom ersten bis zum letzten Vers mühelos aufsagen kann. Das war in meiner Vergangenheit schon oft wichtig. Die letzte Strophe „Mach End, oh Herr, mach Ende mit aller unsrer Not ..." gab meinen Gebeten Worte, als die Kinder und ich in der letzten Krankheitszeit meines Mannes an die Grenze unserer Kraft gekommen waren. Das ganze Lied hat mich begleitet, als ich nach dem Tod meines Mannes den ersten Urlaub auf der Insel Usedom verbrachte. Der menschliche Gesprächspartner fehlte. Paul Gerhardts Lied half, das Gespräch mit Gott zu führen. Während ich mit dem Fahrrad von Zinnowitz nach Ahlbeck radelte, habe ich mir mehrmals dieses Lied innerlich vorgesagt und daraus Trost und Kraft empfangen. Für Paul Gerhardt waren seine Lieder „in Einsamkeit mein Sprachgesell". Genau so erlebe ich seine Lieder bis zum heutigen Tag. Zu den Liedern, die mich seit meiner Kindheit begleiten, gehört auch das Adventslied: „Wie soll ich dich empfangen ...". Es kann gesungen und gebetet werden.
„Paul Gerhardts Lieder beginnen auf der Erde und enden im Himmel." So hörte ich es in einem liturgischen Seminar. Seither richtet sich mein Blick bei den Liedern von Paul Gerhardt ganz selbstverständlich auf den ersten und letzten Vers. Darauf achtete ich auch bei dem Adventslied: „Wie soll ich dich empfangen ...". Und es stimmt auch hier: Dieser an ein Liebeslied erinnernde und an manchen Stellen erotisch angehauchte Choral beginnt ganz irdisch und endet im himmlischen Freudensaal. Am Anfang steht eine Frage: „Wie soll ich dich empfangen ...?" So fragt der Liederdichter und mit ihm die singende Gemeinde den kommenden Christus. Die Fragenden sind schon ganz bei dem Kommenden. Auf ihn konzentriert sich alles.
Wenn ich einen geliebten Menschen erwarte, dann versuche ich, mir vorzustellen, was ihn bei seinem Besuch freuen könnte. Dabei bedenke ich sowohl die Äußerlichkeiten, die sich auf den Raum als auch auf mein eigenes Erscheinungsbild beziehen. Ein Lächeln soll dem Kommenden anzeigen: „Ich freue mich über dich, dein Kommen macht mich glücklich." Zugleich soll der vorbereitete Raum ihn zum Wohlfühlen einladen.
In Paul Gerhardts Lied geht es zunächst aber nicht um die Überlegungen der Gastgeber. Hier wird der erwartete Gast gebeten, selbst auszudrücken, was ihn freut. Die Worte: „O Jesu, Jesu setze mir selbst die Fackel bei ..." bitten um Erleuchtung und Erkenntnis. Jesus soll seine Gastgeber erleuchten und ihnen offenbaren, wie er empfangen werden will. Und doch scheint das nur eine rhetorische Fragen zu sein. Denn ohne eine Antwort abzuwarten, erzählt das Lied, wie der Liederdichter den Geliebten empfangen will:
„Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin, und ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn."
Während der irdische Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem mit Palmen und grünen Zweigen begrüßt wurde, empfängt Paul Gerhardt den auferstandenen Christus mit Lobliedern. Anstelle der grünen Zweige streckt er ihm die Lebensmitte, das Herz entgegen. Der Kommende wird in das Zentrum des Seins aufgenommen, denn seine Ankunft revolutioniert das gesamte Leben. Wo schwere Not die Freude verdrängt hatte, da verwandelt der kommende Christus die Trauer in Glückseligkeit. Befreit von den umschlingenden Banden, jubeln die Sängerin und der Sänger dem Kommenden entgegen. Jubelnd halten sie ihm entgegen, was er ihnen bereits vor seiner Ankunft zum Geschenk gemacht hat. Spott und Schande hat er von ihnen genommen und sie zu neuen Menschen gemacht.
Warum eilt dieses Geschenk dem Kommen Christi voraus? Was ist der Grund für die Güte und Freundlichkeit des Gastes? Es ist allein die Liebe, die sein Tun motiviert. Keine menschliche Leistung hat ihn zu dieser Wohltat gezwungen. Es ist allein die göttliche Liebe, die seinem Kommen vorauseilt und vor der Tür der Gastgeber darauf wartet, eingelassen zu werden. Wo Trübsal das Herz noch beschwert, steht die Hilfe bereits vor der Tür.
In der Mitte des Liedes wechselt der Dichter vom „Du" ins „Wir". Nun spricht er nicht mehr die einzelne Person an, nun ist die ganze Gemeinde angesprochen. Es klingt wie eine Antwort auf die eingangs gestellt Frage: „Wie soll ich dich empfangen ...", wenn es nun heißt:
„Ihr dürft euch nicht bemühen noch sorgen Tag und Nacht. Wie ihr ihn wolltet ziehen mit eures Armes Macht. Er kommt, er kommt mit Willen, ist voller Lieb und Lust, all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewusst."
Alles Sorgen und Grämen, alle Hektik der Vorbereitung sind zwecklos. Ja, sie sind sogar hinderlich, denn: „Er kommt!" - Er kommt aus eigenem Antrieb. Er kommt, weil er kommen will. Es ist ihm eine Lust, zu euch zu kommen und Angst und Sorge zu vertreiben. Er kommt in all euer Chaos hinein, er kommt, obwohl eure Zimmer längst nicht so aufgeräumt sind, wie ihr sie gerne vorzeigen würdet. Er kommt, obwohl die Schuld noch euer Herz beschwert. Er kommt, um euch genau diese Schuld abzunehmen. Er kommt und bringt das Heil, das ihr euch mit eurem Sorgen und Grämen niemals verdienen könnt.
Er kommt! Das sind die Leitworte des gesamten Liedes. Davon sprechen auch die beiden letzten Verse des Chorals. Jesu Gleichnis vom großen Weltgericht aufnehmend, beschreibt das Lied das zweite Kommen Jesu. Er kommt als König und er kommt zum Weltgerichte. Ja, er kommt auch zum Weltgericht. Und damit hat sich der Schauplatz nahezu unmerklich von der Erde in den Himmel verlagert. Der Kommende wird am Ende für die einen zum Richter und für die anderen zum Retter. Er kommt „zum Fluch dem, der ihm flucht, mit Gnad und süßem Lichte dem, der ihn liebt und sucht". Die Gnade dominiert auch hier. Wer dem kommenden Herrn mit liebender Erwartung entgegenblickt, braucht das Weltgericht nicht zu fürchten. Wer Christus liebend erwartet, darf sich freuen auf den himmlischen Freudensaal, in dem Licht und Wonne hell erstrahlen und alle gegenwärtigen Adventslichter überstrahlen.