„Wir haben allen Grund, dankbar zu sein - deshalb wollen wir heute ein Dankfest mit euch feiern", so steht es auf Ihrer Einladung zur Goldenen Hochzeit zu lesen. Wer dankbar ist, der weiß, dass alles auch ganz anders sein könnte. Wer wirklich von Herzen dankbar ist, weiß, dass sich nichts von selbst versteht. Denn Dankbarkeit wurzelt in der Erkenntnis und der damit manches Mal verbundenen bitteren Erfahrung, dass das Leben zerbrechlich und gefährdet ist. Zerbrechlich, gefährdet, unberechenbar. „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt" - so hat es der von Ihnen verehrte Wilhelm Busch auf den Punkt gebracht. Sie selbst haben es in unserem Gespräch treffend formuliert: „Der Dank setzt das Wissen um die Zerbrechlichkeit der Welt und des eigenen Lebens voraus." Wer auf dem Hintergrund dankbar ist, der hat keinen verklärten oder romantisierenden Blick auf das Leben, der in das klebrige Friede, Freude, Eierkuchen-Lied beherzt einstimmen könnte. Sie schauen aber auch nicht mit traurigen, frustrierten Augen auf das Leben gemäß dem Motto: „Es hat eh doch alles keinen Sinn, und alles ist vom dunklen Schleier der Angst, es könnte etwas passieren, belegt." So entsteht Unzufriedenheit, die freilich nur allzu oft anzutreffen ist. Ihnen aber ist sie fremd. Sie haben Recht, wenn Sie für sich sagen: „Es muss doch furchtbar sein, im Alter auf das Leben zurückzublicken und unzufrieden mit dem Leben zu sein."
Ihre Dankbarkeit und ich vermute fast alle Dankbarkeit wurzelt letztlich in der tiefen Erfahrung: „Wir haben unser Leben nicht in der Hand." Wie Sie sich gefunden haben, um als Paar zu leben und sich zu lieben, belegt den Satz auf eindrückliche Weise. Letztlich begegnen Sie sich aufgrund einer weltpolitischen Situation, die sich konkret in Ihrem Leben ausgewirkt hat. „Vier Stunden habt ihr Zeit zu packen, dann müsst ihr weg", so lautet der eindeutige Befehl des Soldaten, der Ihre Familie dazu gezwungen hat, Besitz und Heimat aufzugeben. Bei der Vorstellung allein läuft es mir kalt den Rücken hinunter, und vor meinem geistigen Auge sehe ich die Gegenstände, die ich einpacken würde. Wirre Wege führen Sie in die Fremde, um schließlich als „Flüchtlinge" anzukommen. Fremd. Nicht erwartet. Nicht geschätzt. Wer wollte schon mit „Flüchtlingen" etwas zu tun haben? „Ausgerechnet in einen Flüchtling musst du dich verlieben", hat dann auch Ihr Vater gesagt und Ihre Beziehung mehr geduldet als bejaht.
„Wir haben unser Leben nicht in der Hand" - das gilt für alle Menschen. Egal, an welcher Stelle eines Lebens sich jemand seinen bisherigen Lebensweg anschaut. Wenn er sich das ganze gelebte Leben, mit jedem Auf und Ab, mit der geleisteten Arbeit, mit kräftigen Aufbrüchen und ungewollten Abbrüchen, die ganze Lebensfreude, alle Hoffnung und jede Enttäuschung vergegenwärtigt - zu welchem andern Schluss sollte er kommen?
„Wir haben unser Leben nicht in der Hand." Es kann einem alles entgleiten und von jetzt auf nachher Nacht werden mitten am hellen Tage. Es gehört zur Lebenserfahrung dazu, dass einem manches Mal die Kraft fehlt für den nächsten Schritt, weil alles auf einmal zu viel wird. Sie können ein Lied davon singen, weil Sie die Nachricht vom Bruder ereilt, der an der Front „gefallen" ist. Sie können ein Lied davon singen, weil Sie schwere Diagnosen und die damit verbundenen Therapien erlebt haben. Sie wissen, wie es ist, mit nichts dazustehen und neu anzufangen. Es ist - und das haben Sie auch in Ihrem Leben bitter erfahren müssen - der Tod, der einem den Spiegel vor Augen hält und sagt: „Du hast dein Leben nicht in der Hand." Wer das Fest der Goldenen Hochzeit feiert, hat schon reichlich Abschiede in sein Leben einbinden müssen. Das haben Sie festgestellt, als Sie einen Blick auf Ihr Hochzeitsfoto geworfen haben.
„Wir haben allen Grund, dankbar zu sein." Wer dankbar ist, lässt das Leben los und legt es vertrauensvoll in die Hände Gottes. Mehr können wir nicht machen. Das Leben loslassen, an dem wir hängen, ist nicht einfach. Denn wir sind es ja gewohnt, etwas aus unserem Leben zu machen. Alles fest in den Händen zu halten. So haben Sie das in Ihrem langen Berufsleben gemacht, so wie das Ihnen als Mutter vertraut ist. Loslassen und abgeben - das ist Vertrauen. Nichts anderes ist Glauben. Vertrauen darauf, dass da noch einer ist, der mit uns geht auf unserem Lebensweg - als guter Hirte, wie es in Ihrem Lieblingspsalm und Trauspruch heißt. Der gute Hirte geht mit, auch und erst recht in das finstere Tal. Der gute Hirte bewahrt uns nicht vor schwierigen, dunklen Lebensabschnitten. Das finstere Tal gehört zum Leben dazu. Gott schützt nicht vor den Gefährdungen unseres Lebens, aber er geht mit uns durch - trägt, hält, stärkt und tröstet.
Julie Hausmann hat das in ihrem Lied „So nimm denn meine Hände", das Sie vor 50 Jahren an Ihrem Gottesdienst gesungen haben, so beschrieben: „Wenn ich auch gar nichts fühle von deiner Macht, du bringst mich doch zum Ziele auch durch die Nacht." Dem, der uns auch durch die Nacht begleitet, dem können wir unser Leben in die Hände legen. Was vor uns liegt an Lebensweg und Lebenszeit, ist fremd und unbekannt und mag manchen auch ein wenig Angst machen. Ich wünsche uns aber Gottes Nähe als Stecken und Stab. Vertrauen und den Mut, unser Leben dem in die Hand zu geben, der als guter Hirte mit uns geht. Dann muss uns vor dem, was da kommt, nicht bange sein, und wir können von Herzen dankbar durch das Leben gehen.
Gebet:
Gott des Lebens,
wir danken dir dafür, dass du uns auf unserem Lebensweg begleitet hast. Wir danken dir, dass du uns auch durch das finstere Tal führst und dein Stecken und Stab uns Trost und Halt gibt.
Wir bitten dich, hilf uns unser Leben dir vertrauensvoll in die Hand zu geben. Ermutige und stärke uns für die Tage, die vor uns liegen.
Liedvorschläge: 321,1-3 (Nun danket alle Gott)