Sommer-Dienst

Jetzt - endlich - im Sommer greifen wir die Erde mit Händen, hören den Klang mit offenen Ohren und sehen, wie alles aufreißt, süchtig nach Sonne und Leben und Weite. Fern davon, einer „natürlichen Theologie" alten Musters das Wort zu reden, bin auch ich einer, den es nach draußen drängt. Singe Lieder, pfeife schon nach dem Aufstehen ein Lied, mische mich ein in die Geräusche, die mich am Tag begleiten. Ich denke mir, das alles sind Lieder.

Das Lied der Erde kennen wir. Wir kennen das Krachen, Bersten und Schlagen fallender Steine im Gebirge. Wir kennen das dumpfe Hallen in Höhlen und Stollen. Wir kennen das Bersten und Stöhnen und Reißen fallender Bäume. Wir kennen den gedämpften, haftenden Klang der Schritte in der Heide, im Moos oder auf Waldwegen. Wir kennen das Knirschen der Kiesel, das Schmatzen des Lehms und das Rieseln des Sandes.

Das Lied des Wassers kennen wir. Wir kennen das aufgeregte Plätschern einer Quelle. Wir kennen die gewaltigen Schläge, das Rollen, Schlürfen, Krachen und Tosen großer Meereswogen. Wir kennen das ruhig vergnügte Spiel eines kleinen Sees am helllichten Sommertag, den einsamen Schrei eines Seevogels und die durchdringenden Liebeslieder von Fröschen und Kröten.

Das Lied der Luft kennen wir. Die bösen, trockenen Schläge eines Gewitters über uns, das leise Spiel des Windes mit Weide und Pappel. Den Herbststurm in seinem dramatischen Crescendo und Decrescendo und das stetige leise Sirren und Zirpen und Flimmern und Lasten, wenn im Sommer die Hitze steht über Haus und Feld.

Das Lied des Feuers kennen wir. Das wahnsinnige Presto eines Feuersturmes kennen wir und das verhaltene Knis-tern, Spritzen, Knacken und Flackern eines Holzfeuers im Kamin. Das Lied surrender und züngelnder Flammen kennen wir und das verlangende, gefräßige Zischen und Surren und Packen und Verschlingen eines Oster- oder Erntefeuers.

Unsere Vorfahren dachten sich den Himmel, die Sterne auf ihrer Bahn, die Sonne in ihrer Stetigkeit, den Mond in seiner Zurückhaltung und Klarheit - sie dachten sich den Himmel in größter Harmonie. Mal als ein riesiges, bis ins Feinste ausgetüfteltes Uhrwerk, mal wie kristallene Schalen, übereinanderliegend, ineinander sich bewegend in vollendeter Harmonie. Der Kosmos war für sie Klang und nicht Stille.
Dieser Klang hallte wider in den Seelen der Menschen, denen die entsprechenden Saiten geschenkt waren. Sie hörten mit der Seele, schrieben auf, was sie hörten, und blieben mit den ärmlichen menschlichen Instrumenten, mit Cello und Flöte und Orgel doch weit zurück hinter dem Klang, der sie erfüllte. Das Pizzicato einer Geige und das drängende Grollen einer Pauke waren nur ein schwacher Abglanz des Rotkehlchens oder des Donners. Und doch schufen sie Lieder, die uns zu Tränen rühren, die uns trösten, die uns etwas ahnen lassen von dem großen Gesang Gottes.

Ein himmlischer Chor jubelt auf den Hirtenfeldern vor Bethlehem. Das Lied der Serafim in der Vision des Jesajas macht die Schwellen des Tempels beben. Die Harmonie von Maßen und Tönen, von Stadt, Baum und Fluss am Ende der Tage. Keine Tränen, kein Tod, kein Leid, kein Geschrei. Ein neues Lied Gottes, eine neue Schöpfung, vollendete Harmonie, durch nichts mehr bedroht. So wie es Mozart hörte, wie es Vincent von Gogh sah und wie es Leonardo ertastete. Nur eben mit Gottes neuen Instrumenten gespielt, mit Gottes ungebrochenen Farben gemalt, mit Gottes unermesslichem Maß gemessen.

Das Lied der Schöpfung, den Gesang der Liebe, den Einklang von Gott und Welt, Gott und Mensch, Mensch und Natur, Vergangenheit und Zukunft - wir hören es gebrochen. Nicht nur, weil unsere Ohren nicht taugen, überlastet sind und gewöhnt an Misstöne. Nicht allein, weil die Geräusche um uns, der Lärm der Zerstörung, das Hohngelächter des Todes, die schrillen Peitschenschläge der Macht, nicht allein, weil die Lieder unserer Zeit Göt-zen feiern und die Seele quälen. Wohl auch, weil Gott noch nicht will, dass wir sein Lied singen.
Als die ersten Menschen im Paradies vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, vertrieb sie Gott, dass sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen. Und würden wie Gott selbst. Und sein Lied in Beschlag nähmen, ohne Rücksicht auf Autorenschaft und Ewigkeit. Der Mensch, der Gottes Lied haben will, vergreift sich. Ist den Tönen nicht gewachsen.

Er soll eine Ewigkeit lang hören lernen, vielleicht, dass er dann singen kann. Er muss eine Ewigkeit lang schauen lernen, vielleicht, dass er dann bilden kann.
Es fällt ihm schwer, nur Instrument zu sein. Aber er ist Instrument Gottes. Es fällt ihm schwer, nicht selbst so rein und schön zu klingen. Aber was gibt es Wunderbareres, als dass Gott auf ihm spielt? Es fällt ihm schwer, nicht den eigenen Takt zu schlagen. Aber was gibt es Befreienderes, als sich von Gott heben und tragen und leiten und bergen - und lieben zu lassen? Wie ein Gefäß, das darauf wartet, gefüllt zu werden. Wie eine Saite, die darauf wartet, gespielt zu werden. Wie Ton in der Hand des Töpfers. Wie Lehm, dem der Atem des Lebens eingehaucht werden muss.

Wenn wir Gottes Lied hören wollen, müssen wir zulassen, dass es uns in der Tiefe erreicht und vollkommen verändert. So wie Liebe einen Menschen verändert. So wie nach unserem Glauben Gott alles verändert hat in der Mitte der Zeit, im Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu.
Dietrich Bonhoeffer dichtet:
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Wenn wir einstimmen wollen wie Dietrich Bonhoeffer in „all deiner Kinder hohen Lobgesang", müssen wir zulassen, dass das Lied Gottes uns in der Tiefe erreicht und vollkommen verändert. Die Entdeckungsreise dazu kann jetzt im Juni beginnen. Die Fröste sind vorbei. Mäntel hängen im Schrank. Schneeschippen, Ski und Schlitten wandern in den Keller - bis zum nächsten Jahr. Alles bricht auf, ist unterwegs zum Licht.
Der Pfarr-Dienst jetzt muss nur noch begleiten. Zu den Gräbern, in den Wintern, zur Krippe, zum Kreuz, an das leere Grab - da sind wir Pfarrerinnen und Pfarrer - mutig - vorausgegangen.
Jetzt lassen wir die Menschen gehen. Sie gehen aufrecht, brechen auf wie die Blüten. Jetzt ist es an uns, sie zu be-gleiten und von ihnen zu lernen.

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