Der Monatsspruch im August 2010

Ihr urteilt, wie Menschen urteilen, ich urteile über keinen.
Johannes 8,15

Täglich bewerte ich. Als Lehrer vergebe ich Noten, mündliche und schriftliche, Noten für das Heft und fürs Verhalten. Das gehört zu meinen Aufgaben als Lehrer: Ich gebe Noten, melde meinen Schülern direkt oder indirekt zurück, wie ich ihre Beiträge einschätze. Die Schüler gehen verschieden damit um, dass sie ständig bewertet werden. Manche kommen vorbei: „Wie stehe ich?" Andere wollen am liebsten gar nichts hören. Ich kann das verstehen. Auch ich lasse mich ungern bewerten, zu groß ist meine Angst vor einer Abfuhr, die meiner Selbsteinschätzung einen Kratzer gibt.
Manchmal bitte ich meine Schüler dennoch um eine Rückmeldung: Beschreibe die Art des Unterrichts, was fandest du gut, wo ist dir das Lernen schwer gefallen und was sollte zukünftig besser werden? Ich habe immer ein bisschen Angst bei solchen Umfragen: Was ist, wenn die Schüler mir sagen, dass ich schlechte Arbeit geleistet habe, dass sie mich ungerecht und langweilig finden?
Benoten ist mein Alltag, auch als Pfarrer im Religionsunterricht. Mitten da hinein höre ich Jesus: „Ihr urteilt, wie Menschen urteilen, ich urteile über keinen." Das sagt er auffordernd, ich soll mich an ihm orientieren, über keinen soll ich urteilen. „Das geht nicht, Jesus", fährt es mir durch den Kopf. Das geht nicht als Lehrer. Das geht auch sonst nicht. Ob ich die Waschmaschine von Miele oder die von AEG kaufe, ist ein Urteil über das Gerät und damit automatisch über die, die es hergestellt haben. Überzeugt mich eure Leistung mehr als die der anderen? Ich will auch frei äußern können, wie mir ein Mensch gefällt, warum ich lieber mit diesem als mit jenem meine Freizeit verbringe oder mich unterhalte. Ob mir einer gefällt, bringe ich mit oder ohne Worte immer zum Ausdruck - ich komme gar nicht darum herum. Immerzu bewerte, beurteile ich andere.

„Ich beurteile keinen", hält Jesus dagegen. Er sagt das nach der dramatischen Szene mit der Ehebrecherin: Eine Frau ist beim Ehebruch ertappt worden, und einige Männer möchten das Gesetz zur Anwendung bringen, das Ehebruch mit Steinigung bestraft. Sie können sich dafür auf Gott selbst berufen, der diese Strafe bestimmt hat. So ist es bei Mose überliefert. Sie tun das also in der vollsten Überzeugung, Gottes Willen zu folgen - Jesus weiß das. Er weiß auch, dass die Ehebrecherin Vertrauen zerstört hat. Das untergräbt die Basis unseres Zusammenlebens. Wer das toleriert, lässt der Zerstörung menschlicher Gemeinschaft freien Lauf. Ist Jesus das egal?
„Ich verdamme dich nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr", sagt Jesus. Er tröstet und er ermahnt. Beides bildet bei ihm eine Einheit. Eines ohne das andere wäre unvollständig. Hätte Jesus nur gesagt: „Ich verdamme dich nicht", hätte er den Ehebruch toleriert, als ob es ihm egal wäre, ob Menschen einander vertrauen können. Hätte er nur gesagt: „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr", woher hätte die Ehebrecherin die Kraft zur Umkehr nehmen sollen? Warum hätte sie auf Jesus hören sollen, seine Ermahnung annehmen, wo sie doch genug Druck erlebt?
„Ich verdamme dich nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr", annehmen und ermahnen, Jesus hält beides zusammen, und zwar in einer bestimmten Reihenfolge. Zuerst nimmt er die Frau an: „Du kannst dich auf mich verlassen, mir öffnen." Das ist für die Frau etwas Neues. Vorher hat sie das Gegenteil erfahren: Sie wird abgelehnt und zurückgewiesen, ihr wird Gewalt angedroht, man will sie steinigen. Vielleicht ist das für sie schon eine zu vertraute Erfahrung gewesen? Manchmal überlege ich, ob solche Erfahrungen sie sogar zum Ehebruch geführt haben: Sie wird gemieden und ausgegrenzt - hat gerade das sie dazu gebracht, sich Liebe auf unrechtem Weg zu verschaffen? Vielleicht war es so: Andere haben ihr ihr Leben streitig gemacht, da hat sie sich ihr Teil gegriffen, mit welchen Mitteln auch immer. Die Welt ist ihr feindlich, schenkt ihr kein Vertrauen, da igelt sie sich ein. Sie macht dicht, lässt nichts mehr an sich heran.
Was könnte die Frau wieder öffnen? Jesus kommt mit Vorschussvertrauen auf diese eingeigelte Frau zu: „Ich verdamme dich nicht. Trotz allem, was du angestellt hast. Ich halte zu dir. Wo andere dich klein gemacht haben, damit sie selber groß rauskommen, mache ich dich groß: Steh auf!" Endlich kann sich die zusammengekauerte Frau aufrichten.
Nur wer angenommen wird, kann von anderen auch etwas annehmen. Darum kann Jesus auch etwas fordern: „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr." Jesus traut ihr das zu. Er traut ihr zu, dass sie sich verändern kann. Den ersten Schritt hat er mit ihr getan: Sie war ängstlich und verbittert - da hat er sie herausgeholt, geöffnet - „Du bist bereits angenommen von Gott, nun lebe aus diesem Vertrauen". Jetzt kann sie den zweiten Schritt gehen, auf Jesu Zuspruch antworten. Andere wollten sie festnageln auf das, was sie ist: eine Ehebrecherin. Ihr Urteil legt sie fest, lässt ihr keine andere Wahl, als dichtzumachen. Jesus urteilt auch: So geht es nicht weiter. Darum ist sein erstes Wort der Zuspruch: „Ich halte zu dir", damit das zweite Wort sein kann: „Nun halte dich in deinem Lebenswandel an mich."
„Ihr urteilt, wie Menschen urteilen; ich urteile über keinen", sagt Jesus. Ihr urteilt, um Menschen klein zu machen, damit ihr umso größer rauskommt. Ich urteile so, dass Menschen sich entwickeln können, dass sie wachsen. Ich lege den Finger in die Wunde, nicht um wehzutun, sondern um sie zu heilen.
Auch ich als Lehrer urteile täglich. Gelingt es mir immer, Fehler so zu benennen, dass deutlich wird: „Ich will dir helfen, dich zu entwickeln?" Die Schüler haben oft ein feines Gespür dafür. Sie akzeptieren dann auch schlechte Noten, weil sie merken: Hier nutzt der Lehrer seine Position nicht aus. Er beurteilt, richtet, um aufzurichten. Gut, wenn mir das gelingt.

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