Das Fragment gewinnt an Bedeutung. In der europäischen Kulturhauptstadt an der Ruhr bildet sich das ab. Das mittelalterliche Dokument „Düsseldorfer Fragment" spiegelt die Realität einer europäischen Region. Kultur stellt sogar in der Kulturhauptstadt kein in sich geschlossenes Ganzes dar, in dem die Jahrhunderte in einer Kontinuität zueinander stehen. Alles bleibt je für sich ein Fragment. Je für sich blieben die Jahrhunderte, die Jahre, die Epochen. Dennoch: Häufig rückt ein größerer Zusammenhang in den Blick, wenn man ein Fragment sorgfältig betrachtet. Wer den Teil eines Ganzen sieht, hat die Möglichkeit das Ganze auch in diesem Teil zu erkennen. Ein Fragment muss häufig reichen, wenn ich ein vollkommenes Bild gewinnen will.
Mein eigener Glaube trägt schon seit meiner Taufe Fragmentarisches mit sich. Ich war fünfzehn Jahre alt, hatte mich entschieden, ohne genau zu wissen wofür. Wollte Christ sein, wusste nicht wie. Seit damals habe ich nie eine Hoffnung pflegen können, die es verdient hätte, als vollkommen bezeichnet zu werden. Noch nie habe ich die vollendete Liebe erlebt, und mein Glaube ist noch immer so unvollständig, dass ich mich manchmal für meine schwachen Worte schäme. Mein Glaube gleicht eher einem Fragment oder einer losen Sammlung unterschiedlicher Fragmente als einem Oratorium oder der Gesamtausgabe der Werke der Kirchenväter. Ich erkenne etwas, ich konzentriere mich mit aller Kraft, und dann bildet sich in dem Wenigen, das meine Augen sehen, der Glaube so umfassend ab, dass ich Jesus Christus in meinem Leben erkenne. Jesu Leben entfaltet seine Bedeutung, sein Tod berührt mich, seine Auferstehung erschafft in mir einen sorgfältig begründeten Optimismus. Glaube erzeugt aus dem, was ich nur teilweise sehe, ein umfassendes Bild. Ich behaupte, dass dem Glauben selber eher Fragmentarisches eigen ist, als dass er sich in einer vollendeten Gestalt zeigt.
Viele der Apokryphen kommen meinem Glauben entgegen, weil sie unvollständig sind. Fragmente helfen mir auch, mich selber zu verstehen. Das Hebräerevangelium ist so eine Fragmentensammlung. (Text: Klaus Berger, Christiane Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt am Main 1999, S. 977-979)
Es spiegelt auf eine unbestimmte Weise meinen Glauben wider. Wenige Abschnitte eines ursprünglich wohl vollständigen Evangeliums, an dessen Anfang die Weisen aus dem Morgenland in auffällig prachtvoller Garderobe erscheinen und an dessen Ende Jesus seinem Jünger Jakobus nach seinem Tod wieder begegnet, liegen heute noch vor. Bemerkenswert unsortiert ist das Ganze. Trotzdem steht das Wort „Evangelium" oben drüber. Man weiß, die ursprüngliche Sprache des Evangeliums war Jesu Muttersprache. Der Text war auf Aramäisch abgefasst. Man sagt, es stehe dem Matthäusevangelium theologisch nahe. Doch es fehlen ihm erzählerische Momente, die machen aber ein Evangelium aus: Es fehlen alle Gleichnisse, auch Heilungsgeschichten sucht man im Hebräerevangelium vergeblich. Der Prozess vor dem Gericht, die Verurteilung und die Kreuzigung Jesu werden nicht überliefert.
Jesu Lebensweg leuchtet in den Fragmenten mit nur schwach gezeichneten Konturen auf. Und man fragt sich nach wenigen Sätzen, womit sich diese Fragmente den Titel Evangelium verdient haben. Dass die Fragmente, die heute vorliegen, nur eine Rekonstruktion sind, macht das Bild noch fragiler. Bereits im Mittelalter hatte man versucht, die Fragmente aus Zitaten, die in die Schriften einiger Kirchenväter Eingang gefunden haben, wieder zu einem vollständigen Evangelium zusammenzufügen. Doch es blieben bei allen Versuchen nur Fragmente. Zwischen den manchmal wirr zusammengestellten Textstücken begegnen einem - überraschend - die drei Weisen aus dem Morgenland und - noch überraschender - der auferstandene Christus. Da entsteht aus dem Fragmentarischen für wenige Zeilen ein vollständiges Evangelium. Da gleicht dieses Evangelium meinem Glauben: Manchmal erheben sich aus dem, was sich nicht zur geschlossenen Einheit fügen will, die zentralen Elemente eines Evangeliums und formen meinen Glauben.
So lese ich das Fragment 4:
Nachdem der Herr dem Sklaven des Hohenpriesters das Leinentuch gegeben hatte, ging er zu Jakobus und erschien ihm. Denn Jakobus hatte geschworen, von der Stunde an, da er dem Becher des Herrn getrunken habe, werde er kein Brot mehr essen, bis er den Herrn von den Toten auferstanden gesehen hätte … „Bringt einen Tisch und Brot!", sagte der Herr. Dann nahm er das Brot, segnete und teilte es und gab es Jakobus, dem Gerechten, mit den Worten: „Mein Bruder, iss dein Brot, denn der Menschensohn ist von den Toten auferstanden." (Klaus Berger, Christiane Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt am Main 1999, S. 978)
Die einen werden durch diese Szene an Elia, den Propheten, erinnert. Der wird am Bache Krit auf wundersame Weise gespeist: Gott lässt den matten und in seiner Erschöpfung mutlos gewordenen Propheten nicht verhungern. Und die Botschaft ist einfach: Ebenso wie den Propheten lässt er auch die Christinnen und Christen, die die Wiederkunft Jesu Christi erwarten, nicht zugrunde gehen. Alle leben in einer Zwischenzeit, und da bleibt vieles einfach nur Fragment.
Andere denken an die beiden Jünger, die den auferstandenen Christus die Wegstrecke zwischen Jerusalem und Emmaus begleiten. Er legt die Bibel aus, sie erkennen ihn nicht! Er lässt sich erst an der Geste und den Worten, mit denen er das Brot segnet, identifizieren. An der Geste, mit der der Segen gesprochen und das Brot geteilt wird, offenbart sich Christus. Man kann auch sagen: Hier lässt sich an einer fast fragmentarisch anmutenden Bewegung das Ganze des Glaubens erkennen.
Dass ich gesättigt und oftmals auf wundersamen Wegen von Gott gespeist werde, ist schon immer wie ein Wunder. Und in dieser Geste und aus seinen Segensworten, die über dem Brot gesprochen werden, bildet sich der Glaube in diesem Fragment als vollständiges Evangelium ab. Jede menschliche Geste, die auch nur vage das Teilen der Elemente andeutet, kann zum Hinweis auf den auferstandenen Jesus Christus werden. Da führt eine direkte Verbindung von Jesus Christus, aus dessen Hand, zu mir, in mein Leben hinein. Die geht direkt in meine Hand. Wer Jesu Brotbrechen gesehen hat, wird von dieser Geste angesteckt und ahmt sie nach: „Meine Schwester, mein Bruder, iss dein Brot, denn der Menschensohn ist von den Toten auferstanden." Da weiß jede und jeder, was zu tun ist.
So entsteht aus dem Fragment, das nüchtern die Nummer 4 trägt, ein Evangelium. Es sorgt im wahrsten Sinn des Wortes für eine Gute Nachricht. Es spricht einem doppelten Mut zu. Denn es zeigt, dass sogar die Menschen, die intensiv warten und sehnsüchtig hoffen, nicht verhungern sollen. Gott schenkt Brot. Er gibt Brot für die Welt. Darum offenbart er sich auch in der Geste, mit der er das Brot bricht, es segnet und das Brot nicht für sich nimmt, sondern austeilt. Das Evangelium zeigt sich in der Bewegung, die gibt und nicht behält. Dann folgt diesem Evangelium der Anspruch. Ich kann selber zum selbstlos gebenden Menschen werden.
Manchmal schäme ich mich, weil mein Glaube immer fragmentarisch geblieben ist. Ich bin wieder Anfänger, wie damals bei meiner Taufe. Doch ich erlebe, wenn ich den kurzen, mühevoll rekonstruierten Schriften folge, dass die Fragmente mehr Zuspruch und Anspruch Gottes transportieren, als sie auf den ersten Blick erkennen lassen. Ich will mich auf sie mehr konzentrieren.
Ich vermute, dass die Zukunft auch meines eigenen Glaubens sich weniger am vollkommenen, durchkomponierten Evangelium und zusammenhängenden Glauben, herausbildet, sondern dem Fragmentarischen Vertrauen schenken wird. Im Fragment ist mehr enthalten, als der erste Blick erkennen lässt. Das Hebräerevangelium stärkt mein Gewissen: Das Fragment bildet Gottes Wort umfassend ab. Weder Elia noch die erwartungssatten Christen der ersten Stunde noch du und ich leiden in der Welt der Fragmente wirklich Not. Wir werden satt, weil Jesus Tisch und Brot bringen lässt. Ich hoffe, dass seine großzügige Geste auf mich abfärbt und ich nach seinem Wort lebe, den Tisch hole und selber das Brot teile.
Lesung:
Nachdem der Herr dem Sklaven des Hohenpriesters das Leinentuch gegeben hatte, ging er zu Jakobus und erschien ihm. Denn Jakobus hatte geschworen, von der Stunde an, da er dem Becher des Herrn getrunken habe, werde er kein Brot mehr essen, bis er den Herrn von den Toten auferstanden gesehen hätte … „Bringt einen Tisch und Brot!", sagte der Herr. Dann nahm er das Brot, segnete und teilte es und gab es Jakobus, dem Gerechten, mit den Worten: „Mein Bruder, iss dein Brot, denn der Menschensohn ist von den Toten auferstanden." (Klaus Berger, Christiane Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt am Main 1999, S. 978)
Tagesgebet:
Unser Gott, vollkommen ist nichts,
auch mein Glaube nicht.
Vollendet ist nichts, auch nicht dein Wort.
Lass uns hören, was du uns sagst,
im Bruchstück das Ganze sehen,
im Unvollendeten das Vollendete erkennen.
Fürbitten:
Guter Gott, das klagen wir dir an diesem Tag:
Fragmente sollen Glaube sein.
Vage Hoffnung soll den Mut stärken.
Die erste, zarte Sehnsucht soll Frieden stiften.
Zeige dich uns,
darum bitten wir dich.
Brich uns dein Brot, dass wir dich erkennen,
segne unser Brot, damit wir nicht verhungern,
teile dein Brot, damit wir davon geben.
Lass uns auch in dem kleinsten Teil deines Wortes
dich erkennen.
Psalmvorschlag:
Psalm 73,23-26.28
Liedvorschläge:
452 (Er weckt mich alle Morgen)
228 (Er ist das Brot)
431 (Gott, unser Ursprung)
222 (Im Frieden dein, o Herre mein)
352 (Alles ist an Gottes Segen)