Es war in Shigatse, dem Sitz des Pantschen Lama im Westen Tibets.
3.840 m hoch gelegen. Wir besuchten mit unserer Reisegruppe aus PASTORALBLÄTTER-LESERINNEN
UND -LESERN sowie aus der Wieslocher Christusgemeinde das Tashilhunpo Kloster. Gegen Mittag saßen in dem stufenartig gebauten Heiligtum hier und dort kleine Gruppen von tibetischen Pilgern, aßen an dem sonnigen Junitag Obst oder tranken Tee. Ich traf auf eine Gruppe von Mönchen, von denen einer durch sein hohes Alter auffiel. Mit Hilfe unseres freundlichen tibetischen Reiseleiters kamen wir ins Gespräch. Wie alt er sei. 80 Jahre. Wie lange er hier im Kloster lebe. Er sei schon als Kind hierhergekommen. Erinnerung an eine andere Zeit hatte er nicht. Aus welchem Land ich käme. Deutschland. Das habe er noch nicht gehört. Ich versuchte, ihm meinen Beruf als Pfarrer zu erklären. Meine Beschreibung blieb ihm fremd, auch wenn er zu allem, was ich erzählte, freundlich lächelte. Jesus? Den kenne er nicht. Es gäbe so viele heilige Männer, sagte er freundlich entschuldigend. Aber wenn ich nach ihm frage, müsse er sicherlich ein wichtiger Mann sein.
Acht Jahrzehnte im Kloster. Acht Jahrzehnte konzentriert auf einfache Arbeiten, Gebete, Rituale. Acht Jahrzehnte in diesen bis noch vor zwanzig Jahren schwer zugänglichen Regionen.
Anders der charmant und eloquent wirkende Bodhisatva, den wir Tage zuvor im Tempel Songzhanling in Zhongdian/Shangrila noch vor dem Weiterflug nach Lhasa um die Mittagszeit getroffen hatten. Um ihn, in respektvoller Distanz und etwas tiefer sitzend, mehr als ein Dutzend westlich gekleideter Frauen, die den ins Französische übersetzten Weisheiten des Erleuchteten lauschten. Seine Lehrstunde erinnerte stark an die Auftritte des Dalai Lama, die auf Dialoginteresse weisen. In Tibet scheint das noch anders, rauer, fremder.
Im Februar des gleichen Jahres hatte ich schon mit einer Gruppe von Pfarrerinnen und Pfarrern auf einer der mit KL-Reisen veranstalteten PASTORALBLÄTTER-Reisen China besucht. Wir standen auf dem fast menschenleeren Tian'anmen-Platz, es war wolkenlos, kalt, klare Luft, nur wenige ließen die kunstvollen Drachen steigen, die sonst das Bild des Platzes prägen. Ich wurde auf ein junges Paar aufmerksam, das Hand in Hand über den Platz schlenderte und dann - mit Blick auf das überdimensio-nale Mao-Bild - stehengeblieben war. Jeans, modische Jacken. Sie trug auf dem Rücken in großen Buchstaben die Botschaft: „Jesus - that's my final answer". Auf dem Tian'anmen-Platz! Im Angesicht des „großen Vorsitzenden", vor der „Halle des Volkes"!
Jesus ist in Peking angekommen. Das Christentum ist in China angekommen. Was in Tibet und Nepal noch fremd ist, ist bei den Chinesen fast schon „etabliert".
Wenn wir nun wieder zu einer Reise in die höchstgelegenen Regionen der Erde (siehe Rubrik PASTORALBLÄTTER-Reisen in dieser Ausgabe) einladen, dann suchen wir wieder die Begegnung, das Gespräch und den Dialog der großen Weltreligionen. Nicht missionarisch, eher hörend, fragend, staunend. Das hat nichts mit „understatement" zu tun.
Wir begegnen Kulturen, Anschauungen und Einstellungen, die uns fremd sind. Wir beklagen fehlende Menschenrechte, Armut, politische Instabilität oder Diktatur. Wir kommen aus unserer „weiten" Welt und beklagen die Enge.
Scheinbar offensichtlich drängen sich die uns bekannten Lösungen auf im Miteinander von Frauen und Männern, Starken und Schwachen, Minderheiten und Mehrheiten. Selbst die „Wohlwollenden" spüren ein Gefühl der Ungeduld, des Ärgers über leicht zu behebende Fehler, schließlich ein Gefühl der „Überlegenheit".
Ich bin nicht frei von diesen Gefühlen. Ich war es nicht bei vielen Reisen in China, ich war es nicht in Tibet oder in Ägypten, diesen großartigen, von uns mit Recht bestaunten alten Kulturen. Doch ich bin ebenso wenig frei davon im Blick auf die sozialen Brennpunkte in unseren eigenen Gemeinden.
Bei den vielen Begegnungen mit Menschen außerhalb unseres Kulturkreises habe ich „Demut" - ein großes Wort - gelernt. Früh schon war mir wichtig, zu erfahren, worüber dort Menschen froh sind, was sie stolz macht, welche Träume sie für ihre Kinder und Enkel haben, welche Sorgen sie nachts nicht schlafen lassen, worüber sie lachen und worüber sie weinen. Das hat meine scheinbare Überlegenheit entschleunigt:
Geh runter vom Podest, sieh mit den Augen derer, die du eben fotografiert hast. Du hast eine zahnlose Frau gefilmt, aber kein Wort mit ihr gesprochen. Welche Gebete betet sie, wenn sie betet? Was singt das Mädchen, wenn es Reis pflanzt? Mit welchen Bildern beschreibt der Junge, der auf dem Rücken eines alten Esels sitzt und einen Karren Mais - wohin? - bringt, seine Zukunft? Und was denkt der Familienvater, der dich auf dem Weg zu kulturellen Schätzen seines Landes mit einer Kalaschnikow schützend begleitet, über diesen Fremden aus Deutschland?
Ich habe gelernt, meine Ungeduld einzuordnen. Ich bin sie nicht losgeworden. Aber die Begegnungen haben mich zurückhaltender gemacht. Es gibt nicht die schnelle Lösung. Veränderungen müssen, wenn sie greifen sollen, von innen wachsen.