Der Monatsspruch im September 2010

Ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.
Prediger 3,13

Mein Schwiegervater ist 80 Jahre alt. Er ist ein frommer Mann und war Pastor. Am Frühstückstisch liest er die Losungen. Sonntags bindet er seine Krawatte zu einem festen Knoten. Er lauscht mit ernstem Gesicht der Predigt. Er kann viele Lieder auswendig. Einen Schatz an Bibelworten trägt er in sich. Mein Schwiegervater ist Pastor der alten Schule, die letzten Dienstjahre war er Propst. Die einen halten ihn für einen konservativen Alten. Sie sagen, er sei ein typischer Lutheraner, etwas lebensfern, „theorielastig". Mir macht es Spaß, mit ihm zu diskutieren. Wendig pariert er Thesen, die ihm als allzu modern erscheinen. Schlagfertig wehrt er ab, wenn zu viel Diesseits in die Theologie einziehen könnte. Seinen 80. Geburtstag haben wir groß gefeiert mit Chorälen und Dankgebet.
Mit meinem Schwiegervater kann ich wunderbar plaudern, dann lachen und schließlich auch herumfrotzeln. Er sprüht vor Lebenslust und Geistesblitzen. Wir diskutieren heftig und amüsieren uns später über vergangenen Streit. Wir wissen: Theologische Abgründe lassen sich mit Humor leicht schließen. Unsere Kinder hängen ihm an den Lippen. Mein Schwiegervater weiß wunderbare Geschichten aus alter Zeit zu erzählen. Er ist einer der letzten Zeugen vergangener Tage: Nazizeit, Krieg, Bombennächte in Hamburg. Auch am Tag seiner Konfirmation verbrachte er Stunden im Luftschutzkeller. Dann die ersten Jahre nach dem Krieg. Schöne Geschichten erzählt er immer wieder. Dann hängen alle an seinen Lippen, lauschen wie beim ersten Mal. Zu fortgeschrittener Stunde trinkt er mit uns, den Jüngeren, noch ein Gläschen Rotwein. Mein Schwiegervater lebt ganz im Jetzt. Er ist trotzdem ein frommer Mann.
Seine Frömmigkeit hat mir den Blick für den Weltbezug des Glaubens geweitet. Die Dinge fallen nicht - weil sie aus unterschiedlichem Stoff sind - auseinander, sie kommen zusammen. Theologie und Frömmigkeit verbinden sich mit der Lebenslust. Es wirkt so, als wäre eine Naht gezogen, an der der Gottesbezug mit der Welt vernäht ist. Die Gegenwart erhält ein Wissen von Gottes Wirken. Da wird der Alltag der weltbezogenen Furcht enthoben, und die Gegenwart bekommt ein eigenes religiöses Gewicht. Was zunächst nicht zusammenzupassen scheint, wird hier zusammengefügt. Die Naht hält, ist stabil. Die Verbindung zwischen der Sphäre des Ewigen und der Sphäre des Zeitlichen lässt sich ertasten.
Ich behaupte: Innige Frömmigkeit eröffnet den Glaubenden eine ausgeprägte Weltläufigkeit. Schwiegervater führt den Beweis, er hat mir die Nahtstelle gezeigt. Gottes Wort war allerdings vor ihm: Wenn ein Jegliches seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel seine Stunde hat (Pred 3,1), dann trennt die Bibel nicht, sondern schließt die Sphären aneinander an. Ihr ganzes Wissen und jedes ihrer Worte streben nach einem Anschluss in die Bezüge der Welt.
Lange hat man versucht, alles auseinanderzuhalten: Schweigen und Reden, Zerreißen und Verbinden, Streiten und Friedenstiften. Auch das Reich Gottes und das Reich dieser Welt kann man je für sich getrennt sehen wollen. Ich möchte den Glauben und die Welt auf Verbindungslinien absuchen, mögliche Nahtstellen entdecken. Schweigen mündet häufig in neues Reden ein, Zerreißen verlangt in der Regel nach einem Verbinden, in jedem Streit wohnt der Keim, aus dem Frieden wächst. Wer von Herzen fromm ist, sucht den Weg, der von der einen Sphäre zur anderen führt. Wer sich allein im Diesseits bewegt, sehnt sich häufig nach einer gesättigten Portion Frömmigkeit. Und jedes Frommsein strebt auch danach, sich in der Welt auszuleben.
Das Auseinanderhalten ist die große Kunst der Luthertums: Evangelium und Gesetz, Reich zur Rechten und Reich zur Linken. Ohne Differenzierung geht es nicht. Die Kunst des Glaubens sucht allerdings die Beziehung. Wo bewegt das Evangelium das Gesetz? Das Evangelium stärkt das humane Gewissen dieser Welt. Wo schafft der Glaube sich seinen Alltagsbezug? Es läuft keine Trennung durch das Leben: Frommsein hier und Lebensfreude dort. Es gibt eine Naht, an der Gottes Reich und die Welt der Menschen vernäht sind. Vom Glauben geht eine Stärkung in die Lebensbezüge hinein. Der Glaube an die Auferstehung Jesu wirkt in meinen Alltag hinein. Er schafft Mut, aus dem ich beständig schöpfe. Jeder Widerstand, der sich gegen mögliches Unrecht richtet, speist sich aus meinem Glauben. Jede sinnvolle Tat, zu der ich mich befähigt weiß, jeder Moment, in dem ich mich bedanken kann, entsteht aus einer frommen Bewegung. Die wirkt aus einer oft fernen Sphäre in das Leben hinein.
So lese ich den Monatsspruch: Die Mühe, mit der das Leben in der Welt behaftet ist, wird von einer Kraft überholt, die ihm eine Leichtigkeit gibt. Weltlichkeit und Frömmigkeit suchen eine Verbindung einzugehen. Das tut der Ethik gut und erdet den Glauben. Der wirkt aus den seelischen Prozessen, die der Glaube weckt, in die körperlichen Prozesse hinein. Und wer es sich körperlich gut gehen lässt, sich auch leiblich stärkt, kann sich von der Ewigkeit inspiriert wissen. Das Leben fällt nicht in verschiedene Bereiche auseinander, es bildet eine leib-seelische Einheit. Fromm sein und zugleich die Welt genießen, das bildet eine gute Glaubensmischung. Mein Schwiegervater hat meinen Blick geweitet.

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