Die alte Dame wirkt zerbrechlich. Fast scheint ihr Gesicht in den Kissen zu verschwinden. Aber ihre Augen und ihr Geist sind klar. „Weißt du", sagt sie zu ihrem älteren Sohn, „meine Zeit hier ist längst abgelaufen. Aber ich kann nicht sterben, weil ich noch immer auf ein Lebenszeichen deines Bruders hoffe."
Der jüngere Sohn war mit Anfang zwanzig ausgewandert. In den ersten Jahren bekam die Mutter noch eine Postkarte zum Geburtstag. Dann blieben auch diese Botschaften aus. Sie litt darunter. Seit einiger Zeit versuchte der ältere Sohn deshalb, seinen Bruder über das Internet zu finden. Bisher ohne Erfolg. Auch an diesem Abend setzte er sich an den Rechner. Durch einen Zufall wurde er diesmal fündig. Nach über dreißig Jahren rief er seinen Bruder am anderen Ende der Welt an. Der reagierte freundlich, aber distanziert. Er habe sich ein völlig neues Leben aufgebaut. Warum er sich nicht mehr gemeldet habe? Er habe endgültig mit der Vergangenheit abschließen wollen. Vor allem mit dem Vater, der ihn immer für einen Versager gehalten habe, habe er gebrochen. Dass darunter auch der Kontakt zur Mutter litt, habe ihm leidgetan. Der Ältere berichtet von ihrer kranken Mutter, die nicht sterben kann. Ob er ihr nicht wenigstens schreiben könne? Nach einer Minute des Schweigens reagiert der andere abweisend. „Du weißt, dass ich Mutter immer geliebt habe. Aber ich kann ihr doch jetzt nach all den Jahren durch
einen Brief nicht den Todesstoß versetzen. Nein, das bringe ich nicht übers Herz."
Der Ältere sitzt nach diesem Telefonat noch lange am Schreibtisch. Immer wieder sieht er das Gesicht seiner Mutter vor sich. Er weiß, dass sie leidet. Deshalb beginnt er, an seine eigene Email-Adresse im Namen des Bruders zu schreiben.
„Liebe Mutter, mir geht es gut. Ich habe mir hier ein neues Leben aufgebaut, bin verheiratet und habe zwei Kinder. Mein kleiner Betrieb läuft. Trotzdem müssen wir sparsam leben. Deshalb kann ich dich nicht besuchen. Aber du sollst wissen, dass ich damals nicht deinetwegen gegangen bin. Ich kam einfach mit Vaters herrschsüchtiger Art nicht zurecht. Deshalb wollte ich möglichst viel Abstand zwischen uns bringen. Dich, Mutter, habe ich immer geliebt und in all den Jahren nie vergessen. Du warst eine gute Mutter für mich. Danke. Dein Sohn."
Am nächsten Tag besucht der Ältere wieder seine Mutter. Er berichtet, wie er nach dem Jüngeren geforscht und schließlich von ihm eine E-Mail an die Mutter erhalten habe. Als er sie vorliest, hört sie aufmerksam zu. Dann sinkt sie lächelnd zurück in ihre Kissen. Als ihr Sohn sie an diesem Tag verlässt, hat sie die Augen geschlossen. Er küsst sie auf die Stirn und sieht sie lange an. Er weiß, dass sie am nächsten Tag nicht mehr leben wird.
War das Verhalten des älteren Sohnes richtig? Durfte er diese E-Mail erfinden und als Absender seinen jüngeren Bruder angeben? Er grübelt noch lange. Doch dann sagt er sich, dass der Inhalt der Mail der Wahrheit entsprach und seine Mutter durch diesen Brief endlich in Frieden sterben konnte.
Eigentlich steht er mit seinem Handeln in einer alten Tradition. Denn bereits in der Zeit, in der die neutestamentlichen Schriften entstanden, gab es so ein Vorgehen. Wichtige Texte wurden unter anderem Namen verfasst, um ihnen dadurch mehr Gewicht zu verleihen. Mit den Briefen an Timotheus, einem Freund und Mitarbeiter des Paulus, verhält es sich ähnlich. Die Forschung ist sich heute mehrheitlich einig, dass diese Briefe nicht von Paulus stammen, sondern wohl erst nach seinem Tod entstanden. Wahrscheinlich waren sie auch nicht an die eine Person, Timotheus, gerichtet, sondern an junge christliche Gemeinden. Die Absicht dahinter war, ihnen Paulus als Vorbild darzustellen und sie über wichtige Themen zu belehren.
Es ist also schon damals literarisch gemogelt worden. Im ersten Moment mag diese Erkenntnis gerade in Bezug auf biblische Texte irritieren. Doch einer meiner Professoren während des Studiums machte dazu die kluge Bemerkung, dass es zwischen unecht und unwahr einen entscheidenden Unterschied gäbe. In diesem Sinne ist der 2. Brief an Timotheus, ungeachtet aller Schummelei, dennoch wahr. Der oder die Verfasser wollten, dass sich die Menschen in der Gemeinde von dem Brief persönlich angesprochen fühlen. Wie mit dem Hauptdarsteller in einem guten Roman sollten sie sich mit Timotheus identifizieren und die Worte des Briefes direkt auf sich beziehen. Pädagogisch war das ein kluger Schachzug. Darüber, wie der Brief auf die Gemeinde damals gewirkt hat, können wir nur Vermutungen anstellen. Doch wie wirken die
Zeilen des Predigttextes auf uns als Gemeindeglieder etwa 1800 Jahre später?
Gerade zu dem ersten Vers habe ich eine sehr persönliche Beziehung. Da heißt es in Vers 7: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit." Diesen Vers hatte ich mir als Konfirmationsspruch gewünscht. Doch unsere Pfarrerin legte Wert darauf, uns selbst einen Spruch auszuwählen. Sie war der Ansicht, dass wir damit etwas Neues mit auf den Weg bekämen, worüber wir nachdenken sollten. Umso gespannter war ich auf den Spruch, den sie für mich auswählen würde. Während des Festgottesdienstes wurden wir zum eigentlichen Konfirmationsakt immer zu je Vieren nach vorn gerufen. Wie enttäuscht war ich, als alle vier Mädchen, die wir dort vorn standen, denselben Konfirmationsspruch bekamen! Er stammte aus dem 1. Johannesbrief und lautete: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm." Doch der Satz, der mir in vielen Momenten bereits als Teenager wirklich Mut machte und Kraft gab, der mich zugleich herausforderte und antrieb, blieb 2. Tim 1, 7: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit." Wann immer ich Angst hatte, hat dieser Vers mich bestärkt. Wenn ich unsicher war, ob ich eine Situation meistern würde, sagte mir Gott darin zu, dass er mir etwas zutraut. Es war so, als wolle er sagen: „Du kannst das. Nur Mut!" In vielen kleinen, alltäglichen Lebenslagen hat mir das geholfen.
Wie hätte der Vers wohl auf die beiden Söhne der alten Dame gewirkt? Hätte er den Jüngeren aus seiner Verzagtheit herausgerissen und wachgerüttelt für die Erkenntnis, dass Verantwortung unteilbar zur Liebe gehört? Hätte das zu dem mutigen Schritt geführt, seiner Mutter selbst zu schreiben und die Konsequenzen zu tragen? Und der Ältere? Er hat beherzt gehandelt, liebevoll, besonnen und aus innerer Stärke heraus. Vielleicht hätte ihm beim Abschied von seiner Mutter vor allem der 10. Vers, der das ewige Leben betont, Trost gespendet.
Timotheus werden die Worte des Predigttextes in einer sehr schwierigen Lebenssituation zugesprochen. In für Christen gefährlichen Zeiten soll er für das Evangelium einstehen und, wenn es sein muss, sogar dafür leiden. Dass das lebensgefährlich sein konnte, zeigt die Situation des Paulus, der laut Brief gerade in römischer Gefangenschaft sitzt und weiß, dass sein gewaltsamer Tod naht. Vielleicht hat Martin Luther das griechische Wort für Verzagtheit deshalb an dieser Stelle mit Furcht übersetzt. Eine Situation, in der wir unseres Glaubens wegen verfolgt werden, ist uns eher fremd. Wer regelmäßig zur Kirche geht, wird höchstens mal von den Nachbarn belächelt. Aber auch wir kennen Situationen, in denen wir wirkliche Angst haben.
Wovor haben Sie sich schon einmal gefürchtet? Eine gute Bekannte zittert jedes Mal vor der Nachsorgeuntersuchung nach einer Krebserkrankung. Schon zu oft hat sie erlebt, dass der Krebs sich wieder bemerkbar gemacht hat. Wie kann es in einer solchen Situation gelingen, stark und besonnen zu sein? Die eigene Angst aushalten oder gar überwinden kann nur, wer sich gehalten weiß. Unsere kleine Tochter macht uns das täglich vor. Sie ist so überzeugt davon, dass wir sie festhalten werden, dass sie furchtlos auf allen möglichen Möbelstücken herumklettert oder sich manchmal spontan fallen lässt. Sie weiß ja, dass Papa oder Mama da sind. Das macht sie sicher und gibt ihr Vertrauen.
Sich wie ein Kind in Gottes Arme fallen zu lassen, das fällt den meisten Erwachsenen trotz ihres Glaubens schwer. Ich ringe erfahrungsgemäß erst einmal eine ganze Weile mit Gott. Erst wenn ich von der Angst und von diesem Ringen erschöpft bin, beginne ich, mich nach und nach fallenzulassen. Ich glaube, vor allem in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht, fällt dieses Fallenlassen unglaublich schwer. Und dennoch können uns die Sätze aus dem 2. Brief an Timotheus für solche Zeiten zur geistigen Wegzehrung werden. Denn sie weisen auf Christus selbst. So heißt es im 10. Vers, dass Christus Jesus „dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat". Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat er das Leben in ein völlig neues Licht getaucht. Es strahlt jetzt über den Tod hinaus. Jesus hat uns gezeigt, dass es ein Leben hinter dem Leben gibt, gegenüber dem der Tod machtlos ist. Das ist sein großes Argument gegen die Todesfurcht.
Doch neben dem leiblichen Tod am Ende des irdischen Lebens gibt es noch viele andere Formen des Todes mitten im Leben. Da stirbt jemand den gesellschaftlichen Tod, weil er von anderen verachtet oder ausgegrenzt wird. Eine andere wird gefühllos, weil sie nach einer schlechten Erfahrung erkaltet. Es sind die kleinen alltäglichen Tode, die viele von uns viel zu oft sterben. In diesen Zusammenhang passt die wörtliche Übersetzung von V. 7 sehr gut: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit." Hat dieser Satz in Zeiten fürchterlicher Todesangst Trostcharakter, so kommt er mir im Alltag eher wie eine sanfte Mahnung vor. Es scheint, als rufe uns jemand zu: „Wirf die Flinte nicht so schnell ins Korn! Kämpfe um das, was dir wichtig ist, aber mit klugen Waffen, nämlich mit Kraft, Liebe und Besonnenheit! Sei unverzagt und geh auch mal den unbequemen Weg!" Da möchte uns einer ermutigen, wo wir zu verzagen drohen. Da traut uns jemand etwas zu, wo wir uns selbst unterschätzen. Denn Gott hat uns alle Gaben gegeben, mit denen wir das Leben bestehen können. Das ist Zuspruch und Anspruch zugleich. Auf diese Weise ermutigt er uns manchmal zu ungewohnten, aber kreativen Lösungen. Wer sich auf diesen Anspruch einlässt, eröffnet sich selbst die Chance, an kniffligen Lebenssituationen zu reifen, weil er oder sie sich mutig durch sie hindurcharbeitet. Selbst wenn ein solches Unternehmen manchmal erfolglos bleibt, so bereichert es uns doch durch die Lebenserfahrung, die daraus erwächst.
Es ist müßig zu fragen, wie sich der jüngere Sohn der alten Dame entwickelt hätte, wenn er damals der Auseinandersetzung mit dem dominanten Vater standgehalten hätte. Am Ende hat der Ältere an seiner Stelle gehandelt. Anstatt zu verzagen, hat er seine Mutter innerlich losgelassen und ihr geholfen, in Frieden zu sterben. Dabei hat er sich schweren Herzens und doch besonnen für eine Notlüge entschieden und die Kraft aufgebracht, diesen Weg konsequent und ruhig zu gehen. Ob das moralisch richtig war, mag jeder von Ihnen selbst entscheiden. Da wird es sicherlich unterschiedliche Meinungen geben. Auf seine Weise hat er in jedem Fall mutig gehandelt. Manchmal mutet Gott uns zu, solche Entscheidungen zu treffen. Er tut dies, weil er uns etwas zutraut. Wenn wir in diesen Momenten zugleich auf ihn vertrauen, dann sind das gute Voraussetzungen, um mutig zu leben.
Fürbitte:
Gott, du treuer Begleiter, wir bitten dich um Mut,
wenn wir es mit der Angst zu tun bekommen.
Dann erinnere uns an die Kraft, die du uns schenkst.
Wenn wir verzagt sind, weil mal wieder vieles schiefgegangen ist oder wichtige Menschen uns missverstanden haben, dann gib uns die Fähigkeit, uns in Ruhe zu sammeln, um dann einen neuen Anfang zu wagen.
Gott, voller Liebe, wenn wir zu erkalten drohen in einer unterkühlten Welt, dann entzünde das Feuer deiner Liebe neu in uns, damit wir etwas von deiner Botschaft weitergeben durch unser Leben.
Psalmvorschlag:
Psalm 68,4-7a.20-21
Lesung:
Klagelieder 3,22-26.31-32
Liedvorschläge:
161,1-3 (Liebster Jesu, wir sind hier)
Regionalteil: Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen
154,1.3-4 (Herr, mach uns stark im Mut)
Regionalteil: Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut
394,1-5 (Nun aufwärts froh den Schritt gewandt)