Unversehens. Unerhört. Unverhofft. - Petrusevangelium (Predigt über apokryphe Texte)

„Es ist eine große Sache, ein Christ zu sein und sein Leben verborgen zu haben, nicht an irgendeinem Ort wie der Einsiedler oder im eigenen Herzen, das doch ein tie-fer Abgrund ist, sondern in dem unsichtbaren Gott selbst. Das heißt, inmitten der Dinge der Welt zu leben und sich von dem zu nähren, was nirgends in Erscheinung tritt, außer in dem dürftigen Zeichen des Wortes und allein im Hören." (Martin Luther, Vorlesung über den Hebräerbrief)

Vor mir liegen die wenigen Seiten, die den apokryphen Schriften des Neuen Testaments als „Petrusevangelium" zugeordnet werden. Das kleine Fragment aus der Mitte des 2. Jahrhunderts muss sich nun gegen alles Vollständige und Vertraute zur Wehr setzen. Der Text folgt im Wesentlichen den Passionsgeschichten der anderen Evangelien, zeigt aber nicht mehr sein ganzes Gesicht. Er ist deutlich aus einem größeren Zusammenhang herausgebrochen. Was übrig blieb, kommt fremd und etwas kurzatmig daher, ist wenig bedacht auf Details und deshalb schnell skizziert.
Die Erzählung setzt unvermittelt ein mit dem Statthalter Pilatus, der sich soeben seine Hände in der sprichwörtlichen „Unschuld" gewaschen hat. Es folgt eine knappe Leidensgeschichte Jesu mit Kreuzigung, Tod und Beisetzung. Das Grab wird verschlossen und bewacht. Als am Morgen des dritten Tages drei Frauen dorthin gehen, um den Toten zu salben, finden sie das Grab offen. Ein Mann im weißen Gewand teilt ihnen mit, dass der Gekreuzigte auferstanden sei. Der Erzählfaden wird unterbrochen und reißt endgültig ab, als der Fischer Petrus, wie ehedem, seine Netze auswerfen will.

Unversehens

Der Name des Evangeliums und ein aufgeputzter Hahn mit blankem, kupfernen Gefieder helfen mir über den fehlenden Anfang hinweg. Mehr als ein halbes Jahr lang war die Zierde des Turmhelms vor meinem Fenster samt Kugel in der Werkstatt verschwunden. Niemals hätte ich gedacht, dass dieser Mangel so schwer zu ertragen sei! Nun dreht sich der Hahn auf einem neuen Gelenk wieder nach Wind und Wetter und erinnert an Petrus. Was wäre die Welt ohne seine Tränen?
Lange bevor sich Pilatus öffentlich die Hände wäscht, hat der verzweifelte Jünger bitter gelernt, dass eine einzigartige Freundschaft unter Angst und Furcht unversehens zur Lüge werden kann, über Nacht, noch ehe der Hahn kräht. Gleich drei Mal leugnet er das Kostbarste, was er hat.
Die geschichtliche Wahrheit nimmt von Zeit zu Zeit eine andere Gestalt an, während sich für die Zeitzeugen wenig ändert. Umso mehr lohnt es sich, die Gesichter und Gesten, die Spuren von Verzweiflung und Hoffnung aus dem Petrus-Fragment zu klauben. Wie in den anderen Ostererzählungen spiegelt sich auch hier die Aufregung der „nachösterlichen Gemeinde" über ein unbeschreibliches Geschehen. Die ergreifende Botschaft von der Veränderung der Welt durch einen Gekreuzigten und dessen leeres Grab ringt nach Ausdruck. Hinter jedem Wort ist der heiße Atem der Betroffenen zu spüren.

Auf der anderen Seite wird Pontius Pilatus, als er am Karfreitagmorgen des Jahres 30 erwachte, kaum geahnt haben, dass das Geschehen dieses Tages seinen Namen auf so traurige Weise verewigen sollte. Ebenso wenig konnte er annehmen, dass sein Urteilsspruch der Anfang vom Ende der mächtigen römischen Weltordnung sein würde. Das christliche Abendland sollte an diesem staubigen Nachmittag den Sieg über die Pax Romana davontragen, auch wenn der eigentliche Sieger zunächst zwischen zwei Verbrechern am Kreuz hängen und sterben würde.
Pilatus war nicht der Einzige, den die Vorstellung, dem Heiland der Welt zu begegnen, befremden musste. In seinem Weltbild kam so einer erst gar nicht vor.
„Restlos überfordert", schreibt Friedrich Dürrenmatt in
der Erzählung „Pilatus", sei der Prokurator gewesen.
Das alles bleibt zwischen den Zeilen des Petrus-Evan-geliums haften, darum liest sich der Text wie ein Prüfungsstoff.
Angenommen, es gäbe nur dieses Bruchstück. Was bliebe, worauf sich der Glaube gründen könnte? Die wenigen Personen sind schnell aufgezählt. Neben Pilatus ein konturloser Herodes, Joseph von Arimathia, Maria Magdalena und am Schluss die Fischer Petrus und Andreas. Zwar kommt das Credo mit noch weniger aus. Aber reicht dieser Stoff wirklich, um die Welt auszuhalten, in der Jesus stirbt und Judas sich erhängt? Das Fragment liefert kaum eine Handlung, keine Vorgeschichte, keinen Abschied, weder Verhaftung noch Verhör. Von den überlieferten sieben Worten am Kreuz kennt es nur eines. Auch sonst bleibt alles wortkarg. Die Mitte ist der geschundene Christus, der mit dem Tod kämpft. Auch dieses Evangelium ringt nach Worten für ein derart unbeschreibliches Sterben, für Schmerz, Hohn, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Es findet sie weder für die rohen und abgestumpften Soldaten noch für den unaufhaltsamen, fast mechanischen Ablauf der Hinrichtung. Am Ende würfeln die Knechte um die Habseligkeiten der Verbrecher. Die Welt unter dem Kreuz ist betrunken und laut.

Unerhört
An so einem Ort vergehen Hören und Sehen.
Was niemand aufschreiben kann, sind die implodierenden Gebete der Menschen unter dem Kreuz. Als der Himmel sich einschwärzt und die Erde aufreißt, mögen einige ein Wunder im Auge haben. Sie hoffen wohl mehr, als sie glauben können. Vieles bleibt unerhört. Später erfahren sie, dass der Vorhang im Tempel zerriss. Das tröstet nicht. Die Hitze flimmert. Staub liegt auf der Lauer, klebt am Holz, brennt im Gesicht. An den Horizont sind Querbalken genagelt. Der Tod geht erst aufs Ganze, wenn die Beine gebrochen sind. Das Geschrei der Kommandos verstummt. Sie werden seine Wunden waschen. Sie werden seinen Leib begraben. Die Nacht steigt zu Kopf und bleibt.
In Todesnähe fehlen ganze Wörter. Oder sie machen, was sie wollen. Gott, Mutter, Vergessen, Verlassen, Heute. Das Wort „Heute" dauert noch an. Am Kreuz klang es heller als unten.
Der Tod bleibt im Zwielicht, fadenscheinig, aufdringlich, lauernd, laut und kalt. Ein Tropfen zu viel Erlösung, dann läuft der Tod über.

Wovon sollte sich der Glaube nähren?
Ehe die Frage ernst wird, hat das Herz seine Hausaufgaben gemacht. Wer wäre ich, wenn ich all die Worte nicht wüsste, die das Evangelium nach Petrus nicht kennt? Erscheinen diese „dürftigen Zeichen" auch oft zu blass, zu fade oder zu leise, so nähren sie doch nicht nur meinen Widerspruch. Sie bergen mich ja seit der Taufe. Was wäre mein Glaube ohne das Heimweh des verlorenen Sohnes und was meine Freiheit ohne die eindringlichen Fragen des Täufers? Was wären meine Sinne ohne die Lilien auf dem Felde oder die Vögel unter dem Himmel? Wo hätte ich Boden unter den Füßen, wenn nicht in Bethanien, Kana, am Ölberg oder im Flecken Emmaus? Was wäre Gewissheit ohne die Fragen des Versuchers und was mein Halt ohne den sinkenden Petrus? Was könnte mich sättigen, wenn nicht fünf Brote und zwei Fische? Könnte ich singen ohne das Magnifikat oder zweifeln ohne Thomas? Und weiter: Wohin führten alle diese Fragen ohne die glühenden Bekenntnisse der Reformation? Was bräche mein Schweigen, wenn nicht die Lieder Paul Gerhardts oder Bachs großes h-Moll? Was gäbe Orientierung, wenn nicht die Perspektive am Abendmahlstisch Leonardo da Vincis? Und wo hätte mein Lob ein Zuhause ohne romanische Grundrisse und gotische Gewölbe? Nein, eine solche Welt möchte ich mir nicht vorstellen! Es bleibt dabei. Mein Kirchturm braucht einen Hahn. Ich kann dieses Petrus-Evangelium nur gut gebrauchen, wenn ich es zu den andern lege.

Unverhofft
Nur vom Ende her gelesen reichen die wenigen Seiten aus, um die Welt nicht so zu lassen, wie sie ist. Sie liefern ein heilvolles Entsetzen.
Ein paar Soldaten bewachen zuletzt müde und gelangweilt den mittleren der getöteten Verbrecher. Er liegt hinter einem schweren Stein in Josephs Höhle.
Als die Welt an diesem Morgen zu sich selbst kommt, erwachen drei Frauen aus ihrer Angst. Mit edlen Salben und Balsam machen sie sich auf den Weg zum Grab. Ihre Hoffnung ist zuerst gestorben. Nach der Gottesfalle der Priester und der Gerechtigkeitsfalle des Pilatus erlag sie der Gnadenfalle des aufgebrachten Volkes. Irgendwann hat das Leid trockene Augen.
Aber dann war das Grab für die Frauen das Ende der Verzweiflung. Der weggerollte Stein gab den Anstoß zur Freiheit. Lehrte er doch, dass die Mächtigen trotz aller Macht nicht einmal einen Toten im Grab halten können. Wo das zutage tritt, kann niemand blicklos bleiben für das Wunder, das unsere Welt auf den Weg brachte. Da passt das ganze Evangelium auf den Zeitungsrand. „Die Macht der Mächtigen kommt von der Ohnmacht der Ohnmächtigen", schrieb Vaclav Havel 2000 Jahre später auf die brüchigen Mauern der Diktatur, und der Stein vor dem Grab kam wiederum ins Rollen.

Bis auf den heutigen Tag bewegt sich lebendiger Glaube immer zwischen Entzücken und Entsetzen. Auch mich haben die Frauen aufgestört. Ihre Bestürzung lehrte mich sehen. Vor den Augen einer kleinen Menschenschar geriet die Welt aus der erstarrten Ordnung in eine neue Freiheit. Seither muss niemand mehr sich fesseln lassen von den Dingen oder im Angstgefängnis einschlafen. Die Tür ist noch immer unverhofft offen. Und noch vor meinen Augen explodiert die Verheißung. Der Anfang des Trostes war immer das Ende der Befangenheit.

Ein freudiges Ineinander von Gott und Welt begann damals und hat noch längst nicht aufgehört. Der russische Religionsphilosoph Wladimir Solowjow (1853-1900) schreibt dazu:
„Wenn Christus nicht auferstanden wäre, wenn es sich erwiesen hätte, dass Kaiphas Recht hatte und dass Herodes und Pilatus weise waren, so wäre die Welt eine Sinnlosigkeit, ein Reich des Bösen, der Täuschung und des Todes. Es handelt sich hier nicht um das Aufhören irgendeines Lebens, sondern darum, ob das wahre Leben, das Leben des vollkommen Gerechten aufhören könne. Wenn dieses Leben den Feind nicht besiegen könnte, welche Hoffnung bliebe uns da noch für die Zukunft? Wenn Christus nicht auferstanden wäre, wer hätte dann auferstehen können? Christus aber ist auferstanden."

Wie ein Bild dem Maler erst aus den Augen tritt, bevor es durch seine Hände aufs Papier kommt, so ist das Evangelium in die Welt getreten. Und Gott ist geblieben. Der Auferstandene bleibt zwar fremd in der Welt. Aber die Welt ist nicht mehr am Ende. Im „dürftigen Zeichen des Wortes" lerne ich immer von Neuem zu buchstabieren und zu staunen, was auch in dem kleinen Petrus-Fragment hinter allen Bildern leuchtet. Am Anfang stand die händewaschende Macht. Am Ende ein Fischer, der wie ehedem seine Netze flickt.
Dazwischen die kostbar trotzige Zuversicht dreier Frauen, vor der sich erst das Grab und dann der Himmel öffnen. Die Nacht weicht, die Wirklichkeit sucht sich ihren Weg, immer neu und wider den Augenschein. Die Finsternis springt ab.

Alles begann klein und zaghaft. Sie glaubten ihren Tränen. Sie fürchteten die Politik der Hohepriester und die Macht des Pilatus. Und am Ende trauten sie ihren Augen nicht. Als sie das Grab hinter sich lassen, findet das Wort den Weg zurück in ihr Herz. Ihr Herz findet sich im Wort, und der eben noch eng geschlossene Himmel steht ihnen offen. So kriechen sie ins Evangelium.
Die anderen aber, Pilatus, Herodes und Kaiphas, bleiben sprachlos im Dunkel zurück. Finsternis und Tod stehen ihnen fortan in den Gesichtern geschrieben.
Friedrich Dürrenmatt deutet es auf seine Weise: Als Pilatus erfuhr, was geschehen war, „...ritt er sogleich dorthin und schaute lange in die Höhle. Sie war leer, und der schwere Stein, der sie bedeckt hatte, lag zerbrochen auf der Erde. Langsam wandte er sich. Ein Sklave aber stand hinter ihm, und der sah dann des Pilatus Gesicht. Unermesslich war es wie eine Landschaft des Todes vor ihm ausgebreitet, fahl im frühen Licht des Morgens, und wie sich die beiden Augen öffneten, waren sie kalt."

Tagesgebet:
Gib mir Wohnung in deinem Wort,
dass meine Enge in deiner Liebe,
meine Ohnmacht in deiner Kraft,
meine Zweifel in deinem Trost
aufgehoben sind.
Bewohne mein Herz,
dass mein Zaudern deiner Geduld,
meine Sorge deiner Heiterkeit,
mein Dunkel deiner Freude weicht.

Psalmvorschlag:

Psalm 63,2-9

Evangelium:
Markus 16,1-8

Lesung:
1. Korinther 15,1-11

Liedvorschläge:
72 (O Jesu Christe, wahres Licht)

115 (Jesus lebt, mit ihm auch ich)

347 (Ach bleib mit deiner Gnade)

195 (Allein auf Gottes Wort will ich)

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