Vorbemerkung:
Ich versuche in diesem Additum zur „Totensonntagspredigt" nach der Perikope und zu den drei freien, nur thematisch gebundenen Predigten (Kasualreden) wie auch zum homiletisch reflektierenden Beitrag „Den Toten Sonntag predigen" einen Zugang, der drei Wege zum Ziel offen lässt:
a) das Gedicht „Memento" von Mascha Kaléko
b) das Bild „Magdalenenklage" von Matthias Grünewald oder einem seiner Schüler
c) ggf. ein biblisches Evangelium, bevorzugt hier das Johannesevangelium, mit dem Ende seiner Passionsgeschichte.
Die drei Wege können variierend gegangen werden; sie taugen an Karfreitag oder in der Karwoche, am „Volkstrauertag" wie am „Totensonntag".
Warum habe ich das Gedicht von Mascha Kaléko gewählt? Weil es wie kein anderes meine eigene Situation als „Predigender" beschreibt: Solange ich als Predigender über den Tod rede, ist es nicht meiner, ist es der Tod anderer, „mit dem ich leben muss". Das schließt mich ein in die zu heilende Gemeinschaft derer, die mit dem Tod anderer zu leben haben, und richtet mich mit ihnen aus auf Tod und Herrlichkeit Jesu Christi.
Als ich 1980 erstmals mit meinen Schülern aus der 12. Klasse ein KZ besuchte - die Mauer, den Stacheldraht, die Zeichen des getrennten Deutschlands, der Nachkriegszeit, hatte man mir als Schüler gezeigt, die KZs nicht, der Geschichtsunterricht endete mit Weimar und der Deutschunterricht mit Bergengruen und Stefan George, kein Wort von Brecht; und das Schicksal der Juden kannte ich aus Anne Franks Tagebuch - als ich 1980 erstmals mit meinen Schülern aus der 12. Klasse ein KZ besuchte, da schrieb ich in mein Tagebuch:
Ob da je Gras drüber wächst
Ob da je Gras drüber wächst?
Ob sich nicht Gras und Busch,
Löwenzahn und Brennnessel weigern werden,
streiken, wo Menschen mittaten?
Ob sich die Natur wenigstens aufbäumt,
heute noch
in Auschwitz, Theresienstadt, Treblinka?
In Bergen-Belsen wächst
zurückhaltendes Heidekraut.
In uns wächst die Angst
vor neuem Mord
in neuer Perfektion
gemäß dem Stand heutiger Wissenschaft.
(Gerhard Engelsberger, Bergen-Belsen 1980, erstm. veröffentl. in: Gerhard Engelsberger, Wir kommen auf Umwegen, Karlsruhe 1991, S. 26)
Tut das weh?
Karfreitag ist so lange her.
Und doch trifft uns das Sterben unserer Toten immer neu mit großer Wucht.
Es trifft uns vorbereitet oder unvorbereitet, entsetzt oder gefasst. Die Wucht kommt aus je anderer Richtung, aber es ist die gleiche Wucht. Die Wucht das Todes.
Wir Christen versuchen nicht, das Sterben und den Tod zu erklären. Das machen andere besser, Mediziner, Biologen, Künstler der Mess-Wissenschaften. Wir können bestenfalls deuten. Und deuten heißt hinweisen. Wir weisen hin auf den Tod des Einen, um den Tod der vielen zu verstehen.
Und verstehen heißt dann nicht: nach Beweis, Gegenbeweis und Erklärungen suchen. Verstehen heißt dann: mit dem Tod des anderen, der anderen leben können.
Ich habe vielleicht Angst vor dem Sterben. So ganz weiß ich das nicht. Ich habe aber keine Angst vor dem Tod. Aber das ist leicht dahingesagt. Wenn ich an die denke, die ich liebe, wird mir anders.
Mascha Kaléko drückt es in ihrem Gedicht „Memento" so aus:
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? …
Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr,
und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt, den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben.
(Verse für Zeitgenossen, S. 9)
Als am 9. November 1938 in Berlin und anderswo die Synagogen brannten, war Mascha Kaléko schon wieder unterwegs. Hatte den Absprung geschafft. War - wie man so unter uns sagt - „über dem Teich".
Irgendwie zu früh geboren oder zu spät, jedenfalls zur falschen Zeit am falschen Platz geboren.
Vielleicht die „fühlsamste" und gleichzeitig „widerbors-tigste" Lyrikerin in deutscher Sprache aus dieser Zeit.
Sie ist viele Tode gestorben.
Die Emigrationen.
Die Emigration nach Deutschland.
Dann die Emigration in die USA.
Den Tod des einzigen Sohnes.
Den Tod des Mannes.
Sie lebt vereinsamt in Israel.
Sie lebt vereinsamt in der Schweiz.
Sie stirbt allein.
Als sie allein stirbt, ist es der 21. Januar 1975.
In sechs Verse teilt sie ihr Leben auf.
Eine Katze hat neun
Ich brachte es auf fünf
Das erste war keines
Aber das zählte fast doppelt.
Angst, Hunger, Dunkel
Dann kam die Liebe
Und der Tag schien wieder möglich
Leben Nummer zwei
Bootfahrt auf dem Wasser
Der Jugend.
Nummer drei begann, da hörte
Nummer zwei auf.
Sturm rüttelte am Dach
Die Seidendecke zerriß
Und wir lagen im Gras
Deckten uns zu mit der weißen Wolke
Auf blauem Grund.
Nummer vier begann damit, daß
Aus Zweien Drei wurden
Es war ein Märchen
Wunder schon zum Frühstück
Und Zauber am Abend
Wir ritten über das Weltmeer
Trockenen Fußes
Pfeile trafen dicht daneben
Die Glut versengte uns nicht
Wir flogen im Schatten der
Schutzengel-Schwingen
Alle drei die Gott liebte.
Dann nahm er uns das Kind
Schon war es ein Mann geworden
Ein Gott …
Wieder allein, doch nicht
Wie zuvor, da zwei zu sein genügte …
(Die paar leuchtenden Jahre, S. 217)
Was man vielleicht nicht so spürt beim Hören der für heute ausgewählten Gedichte: Mascha Kaléko war in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts als „Großstadtlyrikerin" mit frechen, fröhlichen, auch frivolen Gedichten ein „Star" in Berlin. Man würde heute sagen: Sie gehörte zur „Szene". Sie verkehrt in den literarisch ambitionierten Kreisen. Sie gehört zur künstlerischen Avantgarde Berlins, die sich im Romanischen Café trifft. Sie ist befreundet mit Else Lasker-Schüler, Erich Kästner oder Joachim Ringelnatz.
Im heutigen Gottesdienst rückt dieser „Erfolg" ganz in den Hintergrund.
Im Vordergrund - auf diesem „Hintergrund" besonders tragisch - steht eine Einsame, eine Heimatlose.
Die erste Ehe scheitert.
Sie schreibt Werbetexte für Toilettenartikel.
Die Vereinigten Staaten sind längst kein Traum. Eher ein Alptraum.
Aus der zweiten Ehe stammt der Sohn Steven. 1936 geboren.
Sie überlebt ihn. Er stirbt 1968.
Sie überlebt auch ihren zweiten Mann, ihre große Liebe. Er stirbt 1973.
Früh diese seltsame Einsamkeit ahnend, schreibt sie eines ihrer tiefsten Gedichte:
Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.
Nur Gott. Den haben sie mit uns vertrieben.
Von all den Vielen ist nur er geblieben.
Sonst keiner, der in Treue zu uns hält.
Kein Herz, das dort am Ufer um uns weint,
Nur Wind und Meer, die leise uns beklagen.
Laß uns dies alles still zu zweien tragen,
Daß keine Träne freue unsern Feind.
Sei du im Dunkel nah. Mir wird so bang.
Ich habe Vaterland und Heim verlassen.
Es wartet so viel Weh auf fremden Gassen.
Gib du mir deine Hand. Der Weg ist lang.
Und wenn das Schiff auf fremder See zerschellt,
Wir sind einander mit dem Blut verschrieben.
Wir haben keinen Freund auf dieser Welt.
Uns bleibt das eine nur: uns sehr zu lieben.
(Verse für Zeitgenossen, S. 47)
Der geniale Maler - man nannte ihn Matthias Grünewald, und Zigtausende pilgern jährlich zu seinem bekanntesten Werk, dem Isenheimer Altar bei Colmar - der geniale Maler hat die Perspektive gewechselt. Er tritt hinter das Kreuz. Und schaut auf die, die vor dem Grab stehen, vor dem Kreuz knien.
Richtet den Blick auf die verzweifelt trauernde, klagende Maria aus Magdala. Mag der Isenheimer Altar mit seinem Täufer, der mit übergroßem Zeigefinger auf den Gekreuzigten zeigt, das bekannteste und theologisch, kunstgeschichtlich auch das bedeutendste Werk sein. Das erschütterndste hat für mich Matthias Grünewald mit der Magdalenenklage gemalt. Die Kreuzigung aus anderer Perspektive. Alle Herrlichkeit ist dahin. Wir haben hinter die Kulissen geschaut. Der Gekreuzigte hängt gottverlassen da. Dieser Nagel in der Hand. Ein einziger, unartikulierter Schrei. Die verlassene Leiter. Warum steht sie überhaupt noch da. Die rechte Hand, ebenso von einem Nagel durchbohrt, ist nicht mehr zu erkennen. Der Kopf ist zur Seite geneigt, weg vom Betrachter. Übermächtig das Kreuz, der Balken, die Nägel. Ein rasch abgeholzter Baum, in der Erde noch verwurzelt. Rasch behauen, abgesägt der obere Teil des Stammes, wird zum Querholz, an dem Jesus hängt. Und doch wird der Blick gefesselt von dieser Frau. Der Gekreuzigte bleibt groß, mag „herrlich" sein, mag gesiegt und vollbracht haben.
Aber der Blick bleibt auf der Frau, die unsäglich klagt, verzweifelt die Hände ringt.
„Bedenkt, den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben."
Grünewald wendet den Blick vom sterbenden Jesus weg auf die Frau, die zu seinen Füßen klagt. Wendet den Blick von sich selbst - denn wer hängt da am Kreuz, gesichtslos? Natürlich Jesus, aber auch er, der Maler, und auch du und ich und alle, die sterben und Menschen hinterlassen, die sie geliebt haben.
„Bedenkt, den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben."
Matthias Grünewald wendet den Blick auf die, die zurückbleiben. Eltern, die ihr Kind verloren haben. Männer, denen die Frau starb. Frauen, denen der Mann starb. Kinder, denen die Eltern starben. Freunde, die nun allein sind. Das sind ja nur Worte. Aber Mascha Kaléko hat Recht:
„Bedenkt, den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben."
Das verzweifelte Gesicht dieser Frau ist die Kehrseite der Herrlichkeit des sterbenden Gottes am Kreuz.
Was muss sie ihn geliebt haben, die Hure Magdalena den Maler Mathis.
Die Maria aus Magdala den Hungerleider Jesus aus Nazareth.
Was muss das für eine Kraft sein, die Liebe?
Eine überirdische Kraft, die keine Grenzen kennt, keine Rücksicht, keine Vorsicht. Eine Kraft, blind für jedes Plakat, dumm für jeden klugen Rat, taub für jede Warnung.
Liebe ist die größte Kraft, die größte Energie, zu der Menschen aus eigener Kraft fähig sind.
Glaube, Hoffnung, Liebe - am Ende bleibt die Liebe.
Und nun sollten wir wieder die Perspektive wechseln, auch wenn uns das schwerfällt. Die klagende Maria aus Magdala ist uns so nah. So nah wie Mascha Kalékos Einsicht:
„… den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben."
Jetzt sind alle Gaffer ausgeblendet. Was so viele - meist nicht besonders reflektiert, das ist „eher so ein Gefühl" - in den Todesanzeigen zu der Formel greifen lässt: „Von Beileidsbezeugungen am Grab bitten wir Abstand zu nehmen" o. ä.
Alle Soldaten und alle Verräter, alle, die mit dem Tod ihr Geschäft machen, und alle, die meinen, mit dieser Hinrichtung einen guten Job getan zu haben. Alle, die sich auf Befehle berufen, und alle, die sich auf diesen Tod berufen. Alle, die schauen wollen und erzählen. Alle, die das Elend zum Thema machen - über den Zaun weg, vor der Haustür, an der Supermarktkasse. Alle sind ausgeblendet. Da bleiben nur zwei. Und die haben nur ein Thema: Liebe und Tod.
Liebe und Tod.
Die Herrlichkeit der Liebe, das Elend des Todes und der Sieg der Liebe. Weil die nicht totzumachen ist. Weil die Liebe Gottes, aus der unser aller Liebe sich nährt, nicht totzumachen ist.
Es gibt beides: den Kreuzweg als Weg in die tiefste Solidarität Gottes mit jedem Geschöpf.
Und es gibt den Kreuzweg als Triumphzug Gottes über die Finsternis.
Und es gibt dieses kleine Bild, das ein verzweifelter, liebender, von Gott besessener Maler im 16. Jahrhundert irgendwo im Odenwald gemalt hat. Danach sei er hochfiebernd im Schnee zu der Kapelle gelaufen, für die er die Magdalenenklage malte. Auf dem Weg lag ein See. Er nahm sich nicht die Zeit, den See zu umgehen. Er nahm den direkten Weg zu dieser Kapelle, über den See. Noch mit Eis bedeckt. Er brach ein. Man konnte ihn nur noch tot bergen. Den Maler Gottes.
Es gibt dieses kleine Bild, das uns bei aller Verzweiflung über den Tod auf die Liebe weist.
„Bedenkt, den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben."
Mascha Kaléko starb in der Gewissheit, dass der physische Tod nicht das Ende des Seins ist.
Das war am 21. Januar 1975. Schmucklos wurde der einfache Holzsarg an einem regnerischen Morgen auf dem Israelitischen Friedhof Friesenberg in Zürich beigesetzt. Alle Reden hatte sie sich verbeten. Nur der Vorsänger intonierte die rituellen Gesänge ihres Volkes.
Ihren Nachruf hat sie mehrfach selbst geschrieben:
Wir wissen nicht, was morgen wird.
Wir sind keine klugen Leute.
Der Spaten klirrt, und die Sense sirrt,
Wir wissen nicht, was morgen wird.
Wir ackern und pflügen das Heute.
Wir wissen wohl, was gestern war,
Und wir hoffen, es nie zu vergessen.
Wir wissen wohl, was gestern war,
Und wir säen das Brot, und das Brot ist rar,
Und wir hoffen, es auch noch zu essen.
Wir wissen nicht, was morgen wird,
Ob der Kampf unsrer harrt oder Frieden,
Ob hier Sense sirrt oder Säbel klirrt -
Wir wissen nur, daß es Morgen wird,
Wenn wir Schwerter zu Pflügen schmieden.
(Verse für Zeitgenossen, S. 42)
Am Ende ist nicht wichtig, ob ich mich für diese oder jene Variante der Bibel entscheide; für das Leiden Gottes im Sterben seines Sohnes oder für die Herrlichkeit Gottes im Sieg über den Tod.
Am Ende ist wichtig, ob Gott auch meinen und deinen Tod besiegt.
Am Ende ist wichtig, ob Gott auch deinem und meinem Leben einen Sinn über den Augenblick hinaus gibt.
Ob ich meinen Sinn binden muss an das vergangene, oder ob Gott mir neue Wege zeigt wie Elia, dem Lebensmüden, dem der Engel sagt: Steh auf und iss, du hast noch einen weiten Weg vor dir.
Am Ende ist wichtig, ob dieser angeschlagene Planet sich noch tiefer verirrt im unendlichen Angebot an Schuld und Verirrung, oder - ob uns nichts trennen kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist.
Und das muss für das Staubkorn gelten, für den Taumelkäfer, für die Narzisse, für den Übeltäter und den Wohltäter, für den Soldaten, für die Mutter, für Freund und Feind, für die Verstorbenen und für die Lebenden: Liebe.
Und wir sind so frei:
Die Liebe - so ein Unsinn - gilt auch noch außerhalb der Milchstraße.
Sie kennt keine Grenzen.
Sie ist stärker als der Tod.