Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe; denn von ihm kommt meine Hoffnung.
Psalm 62,6
Auf schwere Wege wird unser Leben bisweilen geführt, wir schauen in den Abgrund und bekommen eine Ahnung von dem, was uns passieren kann. Zunächst ist es nur ein Verdacht, ein seltsamer Schmerz in der Darmgegend. In uns steigt eine erste leise Ahnung auf, wir schieben sie zur Seite. Es gelingt, aber im Untergrund arbeitet der Verdacht weiter. Der Schmerz vergeht nicht, wie wir gehofft haben, er gibt keine Ruhe, er pocht immer wieder und lässt sich nicht mehr beiseite schieben. Ist er stärker geworden? Ich kann ihn nicht mehr verheimlichen. Der nächste Weg ist der zum Arzt. Ich versuche mich zu beruhigen: Mache dich nicht verrückt, warte ab, es wird alles nicht so schlimm. Aber dagegen arbeitet meine Angst, und bisweilen gewinnt sie die Oberhand. Bei einem Bekannten hatte es auch so angefangen, und dann war es zu spät gewesen. Er hatte genauso geredet wie du, hatte zunächst alles ganz leicht genommen. Vielleicht willst du es auch nicht wahrnehmen. Alle haben ihn damals zu beruhigen versucht. Du hast ja auch zu ihm gesagt: Warte erst einmal da. Die Kunst ist heute groß. Irgendwann hat er keinem mehr geglaubt, auch dir nicht mehr. Und wa-rum soll es dir jetzt anders gehen?
Misstrauen hat sich eingeschlichen, Misstrauen gegen andere, aber vor allem auch sich selbst gegenüber. Die Psalmen sprechen oft von den Feinden, die den Menschen umzingeln, ihn bedrohen, lügen und ihm sogar nach dem Leben trachten. Oft scheinen es ganz handfeste Situationen zu sein, bisweilen scheint es auch Einbildung zu sein - aber gleich, wie groß die Gefahr in Wirklichkeit ist, sie wird als real und bedrohlich erfahren. Und es gibt die Situation, da scheint man auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Niemand scheint einem zu glauben oder einen auch nur zu verstehen. Sie haben alle gut reden, sie wissen nicht, wie es in mir aussieht und wie es um mich steht. Für den Außenstehenden ist es ein überaus beklemmendes Gefühl, den anderen nicht mehr zu erreichen. Krankheitssituationen gehören dazu, aber es gibt auch viele andere ähnliche im Privat- und Berufsleben. Die Isolation lässt das Leben innerlich zerbrechen. Die anderen glauben mir nicht, und ich selbst traue mir im Grunde auch nicht.
Der Beter des 62. Psalms ist ein gebrochener Mensch. Er sieht die Menschen um sich wie Feinde. Sie reden ihm gut zu, aber in Wirklichkeit wollen sie ihn zu Fall bringen. Wie lange kann er ihnen noch widerstehen? Er gleicht einer Wand, die bald einstürzen wird. Das wühlt ihn auf und lässt ihn unruhig werden. Nur einen gibt es, der weiß, wie es wirklich ist, der ihn versteht: Gott. In seiner Unruhe, in seiner großen Not ruft der Beter seinen Schöpfer an. „Mein Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir", lautet der bekannte Ausspruch Augustins. Es ist die Einübung in die Grundhaltung des Glaubens. Der Psalmbeter weiß, dass es genau das ist, was ihm hilft. Er sagt nicht: Zerstöre meine Feinde, lass mich triumphieren. Er sagt nicht einmal: Hol mich da raus. Er geht der Not auf den Grund und damit auch sich selbst.
„In der Ruhe liegt die Kraft", ist immer wieder zu hören. Aber wo finde ich diese Ruhe, wo findet meine unstete Suche ihr Ziel? Es ist die Stärke des Glaubens, dass ich mich in die Hand Gottes begeben kann, ja mich in sie fallen lassen kann. Es gehört zu den größten und tiefsten Erfahrungen des Glaubens, dass diese Hand für mich ausgespannt ist und sie mich auffängt. Die Grundhaltung des Glaubens kann zur Grundhaltung des Lebens werden. Das ist Einübung und Geschenk gleichermaßen. Die Psalmen geben ihre Erfahrungen weiter, sie sind Ermutigung und bisweilen auch Anleitung. Anderen hat Gott geholfen, also wird er auch mich retten, wird er auch dir beistehen. Das Risiko des Glaubens, dieses sich ihm ganz Anvertrauen und sich in ihn fallen Lassen, muss jeder selbst tragen, aber es ist gering und es lohnt sich. Dazu ermutigen die Psalmen.
Finde ich diese Ruhe in Gott, so wird letztlich mein Blick auch ein anderer, der Blick auf andere und auch auf mich, der Blick in die Zukunft ebenso auf die Gegenwart. Nicht die Angst beherrscht mich, ich kann ihr sogar ins Auge sehen. Dieses Grundgefühl lässt mich nicht nur mit der Situation einer Krankheit besser umgehen, sondern erhöht sogar meine Heilungschancen. Und es hilft mir ebenso, auch mit anderen Situation besser umzugehen.
„Es gibt keinen andern Psalm, in dem die Hoffnung, Zuversicht und Vermessenheit auf Gott so stark ausgedrückt und eingebläut wird. Fast zwanzigmal wiederholt er es, und der ganze Psalm tönt von lauter Zuversicht zu Gott." (M. Luther, 1521) Luther wusste dies am 62. Psalm zu schätzen. Für ihn war er ein Musterexempel dafür, nicht auf sich und seine Leistungen zu setzen, sondern sich ganz Gott anzuvertrauen. Der Glaube ist ein Geschenk, wir brauchen es nur anzunehmen. Die Hand ist uns ausgestreckt, wir können und dürfen uns in sie fallen lassen.
Du kannst nicht tiefer fallen
als nur in Gottes Hand,
die er zum Heil uns allen
barmherzig ausgespannt.
Arno Pötzsch (EG 533)