Es scheint vielleicht vermessen, in einer Zeitschrift über die „lectio continua" zu schreiben, die von ihrem Konzept her der Perikopenordnung folgt. Es soll darum von Beginn an deutlich sein, dass es sich hier nicht um eine Streitschrift contra handelt. Denn zweifellos verfügt die Perikopenordnung über diverse Vorteile. Auf meist sechs Jahre hinaus stehen die Predigt- und Lesetexte fest, es wird in einer Kirche am gleichen Sonntag überall derselbe Text verkündet und über ihn nachgedacht, die Unterstützung mittels Zeitschriften wie der „Pastoralblätter" ist nur dank dieser Ordnung machbar.
Dennoch steht es vor allem in der evangelisch-reformierten Tradition, biblische Bücher und Briefe am Stück auszulegen. Die Wurzeln gründen wohl in der synagogalen Thora-Lesung. Unter Zwingli in Zürich wurde dann in der täglichen Lesung der Pfarrer, der Prophezey, kontinuierlich Stück für Stück vorgenommen. In dieser Tradition stehend, hat sich mein Homiletiklehrer immer wieder vollständige Einheiten vorgenommen und uns dadurch Mut gemacht, es ebenso zu versuchen.
Einer der Vorteile für die Predigten, die sich daraus ergeben, ist zunächst eine Art Heimischwerden im entsprechenden Buch. Die Komposition der jeweiligen Schrift tritt mit der Zeit immer deutlicher hervor. Der Dialog mit dem Evangelisten, mit Paulus oder einem seiner Schüler, mit den Autoren der alttestamentlichen Schriften nimmt laufend zu und vertieft sich. Gerade die lectio continua erlaubt es, in gleicher Weise auch die innerbiblischen Gespräche und Auseinandersetzungen jener Zeit besser zur Geltung kommen zu lassen. Die verschiedenen Traditionen im Text können durch entsprechende Einteilungen klar zur Geltung gebracht werden. Die daraus hervorgehenden eigenen Gesichter und die Widersprüche können wir aushalten; nächsten Sonntag kommt vielleicht ein ganz anderes Gesicht zum Vorschein.
So erhalten die Hörerinnen und Hörer jeden Sonntag eine in sich abgeschlossene Predigt. Denn lectio continua darf nicht bedeuten: Wer den Anschluss verpasst, ist weg vom Fenster. Es gibt keine Fortsetzungspredigten. Womöglich solche, die im spannendsten Moment aufhören und auf nächsten Sonntag vertrösten. Das war selbst dann nie der Fall, als die sonntägliche Gemeinde Woche für Woche einigermaßen identisch war und zusätzlich unter der Woche gepredigt wurde.
Hingegen können große Bögen gespannt werden. Die Eigenheiten einer Erzählung werden dann in einer Weise berücksichtigt, die dem Inhalt oder einer bestimmten Erzähltradition näher kommen als die traditionellen, oft harmonisierten Einheiten. Wir können dann sagen: Heute gilt nun dieses Bild; so, wie es dieser Autor zeichnet. Andernfalls sind wir zu oft gezwungen, verschiedenste Bilder in eines zu verschränken und zu versuchen, diese zu harmonisieren. Der Mut zum Fragmentarischen wird demgegenüber durch die fortlaufende Auslegung gestärkt.
Gewohnt sind wir das andere: Die heutige Kapitel- und Verseinteilung zwingt zu größeren Abstraktionen. Scheinbar Zusammengehöriges soll zusammengefügt werden. Dies führt jedoch zu einer stärkeren Theologisierung, was in keiner Weise der Absicht der damaligen Autoren entsprechen muss.
In dieser Linie steht auch die Chance der lectio continua, sich nicht nach theologisch gesättigten Texten richten zu müssen. Psalmen oder Paulusbriefe etwa haben einen hohen religiösen Sättigungsgrad und sind in den Perikopen entsprechen häufig vertreten. Besonders die geschichtlichen Erzählungen des Alten Testaments kennen aber durchaus eine andere Sprache. In ganz alltäglicher Manier werden Dinge erzählt, die „säkular" daherkommen. Es werden Überlegungen dargelegt, die nicht von Vornherein mit religiösen oder gar theologischen Gedanken verknüpft sind. Das färbt auf die Predigtsprache ab und variiert sie in wohltuender Weise. Der Inhalt ist oft schon durch die Erzählsprache „geerdet", während wir bei Paulus die komprimierten Gedanken zuerst entpacken müssen.
Nimmt man sich etwa die Samuel-Geschichte vor, stolpert man immer wieder über Begebenheiten, die selbst - oder zumindest deren Ursprung - keineswegs im Religiösen liegen. Etwa dass Saul nur deswegen König wird, weil sein Knecht im rechten Moment sein Taschengeld für ihn einsetzt (1. Sam 9,8). Eine im Übrigen durchaus aktuelle Episode.
Überhaupt ist das Samuelbuch für alles bisher Gesagte ein besonders lohnenswertes Beispiel. Beginnt man, es von Anfang an durchzupredigen, so steht man bald einmal vor der tiefsinnigen, modernen und mit Humor erzählten Geschichte des Verlustes der Bundeslade. Allerdings erstreckt sie sich über vier Kapitel (1. Sam. 4-7). Dank der lectio continua ist es den Predigthörerinnen und -hörern klar, dass hier nicht übersprungen werden kann. Also bereitet sich die Gemeinde auf eine lange Lesung vor oder man paraphrasiert gewisse Teile zur Kürzung. Die Geschichte selbst ist literarisch dermaßen hochstehend und spannend, dass keine Gefahr besteht, dass sie zu lang ist oder unüberschaubar wird.
Hinzu kommt, dass man als Prediger die Kommentare nicht nur eklektizistisch benützt, weil der Predigttext jeden Sonntag aus einem anderen Buch stammt. Wenigstens einer wird zum roten Faden werden. Die exegetische Arbeit erhält Kontinuität. Vor allem weiß man weit im Voraus, was wann drankommt und wie man gewisse wiederkehrende Themen wo unterbringen möchte.
Auf diese Weise stößt man immer wieder auf Bibelstellen, die normalerweise aus irgendwelchen Gründen übergangen werden - besonders im Alten Testament. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass nicht die gepredigten Lieblingsthemen des Predigers die Gemeinde ansprechen. Vielmehr sind es diejenigen, wo dieser, vielleicht mühsam und mit Ausdauer, durch Unbehagen und innere Auseinandersetzung hindurch in tiefere Schichten gelangt ist. Wer würde ohne äußeren „Druck" von sich aus etwa über das ganze Kapitel 1. Kor. 5 predigen? Wer sich darauf einlässt, wird Unerwartetes zu Tage fördern. Die auf den ersten Blick unbequemen und sperrigen, aber auch die belasteten und vorverurteilten Stellen sind oft die ergiebigsten.
Ähnlich kann es einem mit dem entsprechenden Zeitpunkt ergehen. Natürlich mag es da und dort ein Nachteil sein, dass man zu einem Festtag nicht den quasi richtigen religiösen Text hat. Wobei notfalls die Liturgie des Tages hier viel auffangen kann. Allerdings wird in den meisten Fällen keine Kluft zwischen Text und Festtag entstehen.
Dies nicht nur, weil man vorausschauend sinnvoll eingeteilt hat, sondern weil der Text selbst plötzlich anderes freigibt, als wir es gewohnt sind. So begann ich einmal am ersten Advent mit der Auslegung des Matthäusevangeliums. Zwangsläufig kommt die Geburtsgeschichte (einmal am Stück: 1,18-2,23) im Advent vor - eine „Verfremdung", die mitten im Einkaufstrubel heilsam ist. Dafür landete ich dann am Weihnachtstag bei den Seligpreisungen. Ich wusste zuvor nicht, welch weihnachtlicher Text das ist. Und umgekehrt: Die Weihnachtsgeschichte ist hier mittendrin.
Ich nehme an, Johann Peter Hebel hätte diese Freiheit gerne gehabt. Bei seinem Freund Hitzig beschwerte er sich: „Ich predige nun über das Gericht vor Pilatus zum 9ten Mal." Und später bittet er seinen Kollegen Engler: „Schicken Sie mir doch noch bey guter zeit ein fruchtbares Thema für die Gründonnerstag-Nachmittags-Predigt, oder lieber Ihre ferndige Predigt ganz. Ich habe seit 11 Jahren den armen Pilatus schon so scalpiert und geschunden, dass kein Schakal aus der Wüste mehr eine genießbare Faser an ihm herunter nagen könnte, und die paar Schulterbeine und Hüftknochen, die ich noch von ihm übrig habe, kann ich in Gottes Namen nicht weich kochen. Ich muss sie nun den Zuhörern, so hart sie sind, an den Kopf werfen und sagen: Da! Das ist das letzte, und übers Jahr kommt mir nimmer." (Hebel, Briefe I, Nr. 70 u. 91, zit. in: J. P. Hebel, Predigten, Basel 2010). In satirischer Anmut zeigt Hebel, wo eine Grenze der Perikopenordnung liegt.
Wobei daran zu erinnern ist, dass auch die lectio continua durchaus ihre Ordnung hat, eben der Reihe nach, fortlaufend. Die Ordnung ist aber nicht durch ein Gremium gegeben, sondern sie liegt für alle im gleichen Maß vor. Einer willkürlichen, subjektiven Textwahl sind keine Türen geöffnet. Habe ich mich einmal für ein Buch, ein Evangelium oder einen Brief entschieden, ist der Text bereits da.
Die immer wieder nötige Diskussion um die Anpassung an die Zeit ergibt sich somit nicht durch die veränderte Auswahl der Perikopen, sondern durch die Auslegung selber. Sie wird in der Predigt selber stetig für die Zeit jetzt gestaltet. Allenfalls an irgendetwas angepasste Kirchenleitungen haben hier nicht mitzureden.
Freilich hat die lectio continua eine Schwäche, die sie nicht leicht lösen kann. Es ist der ökumenische Aspekt. Die reformierten Kirchen der frankophonen Schweiz haben nicht zuletzt darum seit rund 40 Jahren den Ordo Lectionem Missae (OLM) übernommen, allerdings ihren Bedürfnissen angepasst. Immerhin kann mit der fortlaufenden Auslegung innerhalb einer Gemeinde Ökumene von der anderen Seite her gelingen. Statt vom Gemeinsamen auszugehen, findet man sich darin. In einer Gemeinde mit mehreren Pfarrerinnen oder Pfarrern einigt man sich auf ein biblisches Buch, das man auslegen will. Jede und jeder übernimmt stets den folgenden Teil. Die Gemeinde erfährt, wie sich die Pfarrersleute, trotz ihrer vielleicht sonst so verschiedenen Denk- und Glaubenshaltung, um eine gemeinsame Mitte, die Bibel, stellen. Wir haben es auch erlebt, dass von außen kommende Prediger oder Predigerinnen im Wissen um die Gepflogenheit der lectio continua gefragt haben, woran wir gerade seien. Dies ist ein ökumenisches Zeichen, besonders dann, wenn die Predigt sich in die fortlaufende Lesung einordnet.