Das Lied, das uns heute das Evangelium verkünden soll, gehört nicht zu den Schlagern der christlichen Gemeinde. Aber immerhin ist „Herr Christ, der einig Gotts Sohn" (EG 67) als Wochenlied für den letzten Sonntag nach Epiphanias vorgesehen. Mit diesem Lied ist uns ein Kleinod überliefert; ein Schmuckstück von besonderer Kostbarkeit. Das wollen wir heute ans Licht halten. Sodass es funkelt und uns mit seinem tiefroten Leuchten erfreut.
Die Entstehungszeit dieses Liedes führt uns etwa 500 Jahre zurück ins Jahr 1524. Da sind wir in der Zeit der Reformation.
Aufbruchsstimmung, Endzeiterwartung, Wiederentdeckung des Evangeliums, Krise der Kirche. Überkommene Ordnungen werden brüchig. Autoritäten werden in Frage gestellt. Die evangelische Bewegung wird zur eigenen Kirche; herauskatapultiert aus dem Schoß der römisch-katholischen. Die einen sind elektrisiert von den Umbrüchen, weil sie Veränderung ersehnen. Andere reagieren ängstlich. Wieder andere mit Macht und Drohgebärden. Je nachdem. In diesem Aufbrechen und Umbrechen lässt sich nun ein Gesang hören, der wie die Ruhe im Sturm klingt. Elisabeth Cruciger hat ihn gedichtet. Sie war die erste evangelische Liederdichterin. Nur ein einziges Lied ist uns von ihr erhalten. Darin preist sie in inniger Dankbarkeit Gottes Gnade, die er uns in Christus schenkt.
Wer war diese erste evangelische Liederdichterin? Was wissen wir von ihr?
Elisabeth Cruciger, geborene von Meseritz, stammt aus einer pommerschen Adelsfamilie. Ihr Geburtsjahr liegt zwischen 1500 und 1505. Es ist uns nicht genau überliefert. In früher Jugend geht sie in das Prämonstratenserinnenkloster Marienbusch bei Treptow an der Rega - das liegt am östlichen Rand der pommerschen Bucht - und wird Nonne. Im Kloster erhält sie eine ausgezeichnete, damals für Frauen nicht übliche Bildung. Lesen, Schreiben, Rechnen, Musik; gepaart mit liturgischer und biblischer Bildung. Im benachbarten Männerkloster Belbuck wirkte damals Johannes Bugenhagen, der später Reformator, Freund Luthers und Stadtpfarrer in Wittenberg wurde. Durch Bugenhagens Wirken kamen auch die Nonnen im Kloster Marienbusch in Berührung mit der neuen Lehre. 1522 verlassen Elisabeth und einige Mitschwestern das Kloster. Ob sie gehen durften oder fliehen mussten, wissen wir nicht. Jedenfalls treffen sie bei Bugenhagen in Wittenberg ein, wo sie vorläufig unterkommen. Zwei Jahre später heiratet Elisabeth den Caspar Cruciger, einen gebildeten, wohlhabenden jungen Mann. Er hatte Hebräisch, Botanik und Mathematik studiert, zählt zu den wichtigen Mitarbeitern der jungen reformatorischen Bewegung, arbeitet an der Seite Luthers an Bibelübersetzungen und deren Druckvorbereitungen und wird später auch als Protokollant von Luthers Predigten berühmt. Luther selbst traut die beiden am 14. Juni 1524 in Wittenberg.
Ein Jahr nach der Hochzeit kommt das erste Kind zur Welt, ein Sohn, Caspar genannt, wie der Vater. Eine Tochter folgt, Elisabeth genannt wie die Mutter. Die heiratet später einen Rektor namens Kegel, und nachdem sie früh verwitwet ist, vermählt sie sich mit Luthers ältestem Sohn Johannes. Die Familien sind ohnehin schon lange freundschaftlich verbunden.
Elisabeth Cruciger und Katharina Luther sind enge Freundinnen. Aus einem Lutherbrief wissen wir z. B., dass die Frauen einander Geschenke machten. Sogar goldene Kostbarkeiten sind darunter. Sicher hat der ähnliche Lebensweg als entlaufene Nonnen, aber auch ihre Bildung und ihre Rolle als Professorengattinnen, Familienmütter, evangelische Pfarrfrauen die beiden tief verbunden. 1535 wird die Freundschaft durch den Tod getrennt. Elisabeth Cruciger stirbt im Alter von kaum 35 Jahren. Mit ihr stirbt die erste Dichterin der evangelischen Christenheit.
Ein interessanter Traum ist uns von ihr überliefert. Eines Morgens erzählt sie ihrem damaligen Verlobten, Caspar, sie habe geträumt, wie sie in der Kirche zu Wittenberg auf der Kanzel stehe und predige. Caspar deutet den Traum auf ihre Lieder: „Vielleicht will Euch der liebe Gott für würdig erachten, dass Eure Gesänge, mit denen Ihr zu Hause immer umgeht, in der Kirche sollen gesungen werden."
Kein Zweifel, dass sie das Zeug zur Predigerin hatte. Davon legt das eine Lied, das uns erhalten ist, eindrücklich Zeugnis ab. Aber für das offizielle Predigtamt für Frauen war offenbar die Zeit noch nicht reif. Selbst die evangelische Bewegung war dafür noch zu eng. Immerhin ist ihr Lied auf Luthers Initiative hin sofort in die ersten evangelischen Liedsammlungen aufgenommen worden, also seit fast 500 Jahren im Gesangbuch. Ein Kenner urteilt: „Elisabeth Kreuzigers Lied hat unter den Liedern der Reformationszeit einen eigenen ... Ton, der den im Kampf stehenden Männern kaum zur Verfügung stand: den Ton inniger Hingabe und Anbetung, der doch gepaart ist mit keuscher, ehrfurchtsvoller Zurückhaltung ... . Es ist das erste Jesuslied der evangelischen Kirche und wird in seiner gehaltenen und tiefen Sprachgestalt von späteren Liedern dieser Art kaum wieder erreicht." (Zitiert nach: Joh. Knulp, Handbuch zum EKG. Sonderband: Die Lieder unserer Kirche, Göttingen 1958)
(Wir singen die ersten beiden Strophen)
Zurückhaltend und in großer Sprachkraft schildern die beiden ersten Strophen das Wunder der Offenbarung Gottes in dieser Welt. Biblische Bezüge klingen an: das erhabene, weihnachtliche Wort aus dem Johannesevangelium (1,14): „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit." Und das andere: „Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt" (Joh 1,18). „Aus seim Herzen entsprossen", heißt es einmalig schön im Lied. Also: In diesem Sohn hat Gott sein Innerstes offenbart. In ihm hat er uns sein Herz geschenkt. Aus Gottes Gefühlsmitte heraus ist Christus in unsere Welt gesandt worden. In ihm begegnet uns Gott selbst.
„Er ist der Morgensterne", singt es im Lied weiter. Was für ein verheißungsvolles Bild! Der Morgenstern kündet vom nahenden Ende der Nacht und vom Anbrechen eines neuen Tages. Deshalb heißt es auch in der zweiten Strophe: „im letzten Teil der Zeit". Darin drückt sich auch das Gefühl der Reformationszeit aus, im endgültigen Umbruch auf das Reich Gottes hin zu leben. Der Morgenstern weckt Hoffnung: Das Dunkle über der Welt, all der Jammer, die Not und die Verzweiflung soll ein Ende nehmen. Noch sehen wir nur hier und dort einen Vorschein jenes neuen Tages. Aber einmal wird sich das Licht jenes Tages durchsetzen. Dafür steht der Morgenstern. Wieder lässt die Dichterin ein Wort aus der Heiligen Schrift anklingen. Im Buch der Offenbarung spricht Christus (22,16): „Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern."
Nach der Betrachtung dessen, wer Christus ist, richtet die zweite Strophe den Blick darauf, was sein Erscheinen bedeutet. „Für uns", in diesen zwei Worten verbirgt sich das ganze Evangelium. „Für uns" ist Christus erschienen, damit wir die Glaubensgewissheit haben, dass Gott uns gut ist; besser, als wir uns selbst zu sein vermögen. Hier erinnert Elisabeth an das alte Nicänische Glaubensbekenntnis. Da heißt es von Christus: „... für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen ..."
„... dass wir nicht wär'n verloren vor Gott in Ewigkeit", so lautet die dritte und vierte Zeile in der heutigen Fassung. Ich weiß nicht, wer sie wann geändert hat. Jedenfalls blieb Elisabeth Crucigers Originalfassung ganz in der Sprache der Symbole und Bilder. Da lauteten die Worte - wieder ganz nah am Bekenntnis: „der Mutter unverloren ihr jungfräulich Keuschheit". Für den aufgeklärten Verstand mag das missverständlich klingen. Aber man soll diese Bekenntnissätze nicht als Biologie hören, sondern als Theologie, als Lehre von Gott bzw. Christus. Dann ist „geboren von der Jungfrau Maria" ein Bild für die Einzigartigkeit Jesu Christi, für seine Wesenseinheit mit Gott.
Die dritte Strophe wendet sich von der anbetenden Betrachtung zur Bitte. Wie aus dem Staunen über Gottes Heilstat und der Freude über das „für uns" das Gespräch des Herzens mit Gott erwächst, so wird hier nun aus dem „er" Christus das „du" Christus.
(Wir singen Strophe 3)
Liebe und Erkenntnis - beides gehört im Glauben zusammen. Die Liebe zu Gott drängt nach Erkenntnis. Die Kenntnis wiederum vertieft und festigt die Liebe. Und noch etwas lernen wir in dieser Strophe: Der Glaube ist ein Wachstumsgeschehen. Solange wir leben, sind wir am Wachsen zu Gott hin. Und niemand kann sagen: Ich bin fertig; ich habe ausgelernt im Glauben. Das Christenleben vollzieht sich in der Spannung zwischen glauben und schauen. Wir „schmecken" schon die „Süßigkeit" der Gnade. Und wir sollen sie uns recht von Herzen auf der Zunge zergehen lassen wie ein gutes Stück Schokolade. Wir dürfen manchmal erfüllte Momente erleben, beglückende Begegnungen. Aber es bleibt doch der Durst nach letztgültiger Erfüllung, danach, dass Gottes Heil für alle und alles in ganzer Klarheit offenbar wird.
Vom Wachstumsgeschehen Glauben singen auch die beiden letzten Strophen. Immer wieder haben wir es nötig, dass Christus unser Herz und unsere Sinne auf sich ausrichtet. Damit wir uns nicht verlieren. Damit wir den Sinn unseres Daseins, unser Vorbild und unser Ziel vor Augen behalten.
„Ertöt uns durch dein Güte,/erweck uns durch dein Gnad ..." So hebt die letzte Strophe an. Das Wort vom Ertöten klingt hart. Aber wenn wir ehrlich sind, wissen wir, dass da manches in uns ist, das besser sterben sollte. Weil es uns am gottgetrosten Leben hindert. Oder weil es andere an ihrer Lebensentfaltung hindert. Mir scheint, hier ist die reformatorische Entdeckung in ihrer existenziellen Tiefe erfasst. Unser tödliches Selbstbild, das uns hin- und herwirft zwischen Grandiositätsphantasien und Selbstverwerfung, dieses Selbstbild soll sterben. Und Gott möge in uns erwecken das Bild von uns, das wir in seinem Blick sind. Nämlich Menschen; fehlbare, geliebte Menschen.
Der theologische Clou jedoch ist: „Ertöt uns durch dein Güte". Es ist die Güte Gottes - nicht etwa sein Zorn -, die das alte, zerstörerische Selbstbild sterben lässt. Es schmilzt vor Gottes Güte wie das Eis im Frühlingssonnenschein. Und dieselbe Güte, erweckt das neue Bild in uns. Sie lässt es aufblühen in unserem Herzen. Die Güte ermöglicht Reue und Umkehr. Die Güte nimmt weg, was Christus entgegensteht. Die Güte macht uns neu und schön in Gottes Augen.
Das Ende unseres Liedes erinnert an ein altes Liebeslied: „All mein Gedanken, die ich hab, die sind bei dir." Einem Liebeslied ist übrigens auch die schöne Melodie entliehen. Ich finde, es ist ein Liebeslied geblieben. Lasst es uns miteinander zu Ende singen.
(Strophen 4 und 5)
Literatur: Sonja Domröse, Frauen der Reformationszeit, Göttingen 2010
Gebet:
Christus, du schöner Morgenstern, ein neuer Tag der Welt bricht an mit deinem tröstlichen Kommen. Der alte Hunger wird gestillt. Gott ist bei seinen Menschen. Niemand ist verlassen. Niemand ist verloren. Du bist da. Lass uns dich schauen und dem Tag entgegenleben.