Stille

Gabriele Führer hat in den beigelegten Bausteinen die Stille thematisiert. Der Februar ist nach den lauten Advents- und Weihnachtstagen und der ebenfalls lauten Jahreswende vielleicht doch der „stillste Monat" im Jahr? Jedenfalls ist Stille heilsam, fällt wohltuend auf und hebt sich befreiend ab.

Selma Meerbaum-Eisinger, eine 1924 geborene Jüdin, lebte in Czernowitz und schrieb im Alter von 15 bis 17 Jahren 57 Gedichte, ein Stück Weltliteratur. (Selma Meerbaum-Eisinger, Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte. Hrsg. von Jürgen Serke, Hoffmann und Campe, Hamburg 2005, 136 S.) Von Leidensgefährtinnen wurden die Blätter gerettet, Hilde Domin brachte sie schließlich von den USA nach Deutschland. Deutsche nahmen ihr die Freiheit, Deutsche nahmen ihr das Leben. Sie starb am 16. Dezember 1942 im deutschen Arbeitslager Michailowska jenseits des Bug. Sie war 18 Jahre alt, wurde irgendwo verscharrt.

Wer ihre Gedichte noch nicht kennt, sollte das Buch lesen. Eines der Gedichte gilt der „Stille".

Stille, 24. Oktober 1939

Im Zimmer schwebt die Stille und die Wärme,
ganz wie ein Vogel in durchglühter Luft,
und auf dem schwarzen kleinen Tische
liegt still das Deckchen, dünn und zart wie Duft.
Das Glas mit klarem Wasser, wie ein Traum, wacht,
dass das Glöckchen neben ihm nicht lärme,
und wartet scheinbar auf die kleinen Fische.
Die rote Nelke dämmert in den Raum,
als wäre sie dort Königin.

Die ganze Stille scheint für sie zu sein,
und nur die Flasche mit dem süßen Wein
blinkt still und wie befehlend zu ihr hin.
Sie aber schwebt auf ihrem grünen Stängel,
dünn wie im Kindertraum das Kleid der Engel,
und ihr betäubend süßer Duft lullt ein,
als wollt' er aus dem Märchenschlaf Dornröschen rauben.

Die Fenster blicken auf die Straße und sie glauben,
das dort sei alles nur für sie getan.
Der Spiegel glänzt und in ihm tickt die Uhr,
ganz weit im fernen Dorfe kräht ein Hahn,
und die Gardinen bändigt eine blaue Schnur.
Die Nelke mit den zarten roten Spitzen
harret des Sonnenstrahls, der durch die Ritzen
ihr heut ein Kleid aus Goldstaub angetan.

Reiner Kunze stellt seinem 1972 erschienenen Gedichteband - man muss das Bedrängende der DDR im Hintergrund wissen - „Zimmerlautstärke" (Gedichte, Frankfurt 1972, S. 7) ein Zitat Senecas voran:
„… bleibe auf deinem Posten und hilf durch deinen Zuruf; und wenn man dir die Kehle zudrückt, bleibe auf deinem Posten und hilf durch dein Schweigen."

Jörg Zink schreibt einmal fast wütend: „Wer lernt schon beten in einer Kirche der vorgelesenen Gebete? Wer lernt schon Stillhalten in einer Kirche der unablässigen Aktivität? Wer lernt schon schweigen in einer Atmosphäre des pausenlosen Geredes? Wer lernt schon, mit Bildern und Symbolen zu leben im Umkreis des blanken Verstandesdenkens? Wer lernt schon das Einfachste, das Sammeln seiner Sinne und seiner Gedanken in der munteren Geschwätzigkeit, die vom Glauben redet? Wer lernt schon ein brüderliches Einander-Geltenlassen in der Welt des naiven oder brutalen Rechthabens, die wir die Welt der Theologie nennen?" (Dornen können Rosen tragen, Stuttgart 1997, S. 86)

In einem weiteren Gedichtband von Reiner Kunze fand ich einen mich seither begleitenden Dreizeiler:

Einladung zu einer Tasse Jasmintee

Treten Sie ein,
legen Sie IhreTraurigkeit ab,
hier dürfen Sie schweigen".
(Reiner Kunze, Sensible Wege und frühe Gedichte, Frankfurt 1969, S. 105).

Ich wünsche Ihnen einen - zumindest - ruhigen Februar. Den braucht das Jahr, um im Frühling und Sommer zu leuchten, zu tanzen und zu leben.

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