Noch schweigt die Erde

Noch schweigt die Erde. Der Himmel präsentiert sich unschuldig blau. Schäfchenwolken am Horizont. Gräber sind noch geschlossen, die Tempelvorhänge intakt. Alles hat seine Ordnung. Wolf Biermann hat es uns einst ins Herz und ins Hirn gesungen: „Das Land ist still. Noch."

Jesu Tod nimmt sich nicht aus von anderen Toden. Sein Prozess hat eine millionenfache Vor- und Nachgeschichte. Es gibt Menschen, die haben schlimmer gelitten. Es gibt Menschen, die haben weniger gelitten. Alles hat seine Ordnung, auch der Tod.

Die Arroganz der Mächtigen, der Sadismus der Mitläufer, die Lust der Voyeure. Alles wie gehabt. Abgestumpft im täglichen Totschlaggeschäft. Hinrichtungsroutine. Wer vor Jerusalem 800 durch den After bis zum Hals Gepfählte hat verwesen sehen, erwähnt drei Gekreuzigte vor der Stadt - wenn überhaupt - nur beiläufig. Ohne Zittern in der Stimme. So wie wir gebetelos das Martinshorn überhören und schamlos Waffen in den Nahen Osten liefern. Ab vier Toten reicht es für eine Fernsehmeldung, im Sommerloch schon ab drei. In der Zeitung sind die Zahlen entsprechend niedriger, und einer allein kommt zu den Anzeigen. Das ist in Ordnung so. Das ist unsere Ordnung so.

Der Tod Jesu hält sich im Rahmen. Geißelung, Verhör, Schläge und Folter sind üblich. Tägliches Ritual.

Wer Jesu Tod verstehen will - wenn das je geht und unser Verstand dem standhält -, wird nicht suchen dürfen im Bereich des Sensationellen, Einmaligen und Besonderen. So wie sein Kreuz nicht über die Symbolik C. G. Jungs zu greifen ist, sondern allenfalls über das Studium von Millionen von Hinrichtungsakten, so ist sein Leiden in nichts herausgehoben von anderem Leiden. Der Sohn Gottes stirbt keinen anderen Tod als der Verbrecher neben ihm.

Sokrates ist gelassener gestorben, Mahatma Gandhi stiller, Martin Luther King vor aller Augen; und die alte Frau, die man kürzlich halbverwest in ihrer Mietwohnung fand, starb einsamer. Wer im Besonderen den Zugang sucht zu Jesu Tod, geht fehl.

Der Tod Jesu ist kein Heldentod, kein Märtyrertod, kein Stoff für Roman, Film oder Musical. Jeder Mensch, der stirbt, hätte den gleichen Abgesang verdient. Und so, wie sich oft draußen in unseren Friedhofskapellen bei Beerdi-gungen die Menschen verlieren, wie ein Leben, ohne Spuren zu hinterlassen, einfach endet, so verlieren sich die paar Angehörigen und Freunde auf dem Galgenberg vor Jerusalem. Und abseits des großen Lebens legt eine knappe Handvoll Trauernder den Toten in eines Fremden Grab.

So ist es, wenn das Wort Fleisch wird in dieser Routinewelt der Nicht-Liebe mit Kinderhaaren an Autostoßstangen. So ist das, wenn Gottes Sohn wie jeder von uns der Maschinerie des Todes unterworfen wird.

Die einzelnen Passionsgeschichten der Bibel haben Nuancen. Bei Johannes ist das Kreuz Ort der Verherrlichung Jesu, bei Paulus Torheit für die Nichtchristen und Gotteskraft den Gläubigen, die wissen, dass Jesus stellvertretend stirbt und unsere Strafe leidet. Markus nimmt alles zurück, was die Schwere des Leidens Jesu hervorhebt, Matthäus betont die Verspottung und Verhöhnung Jesu und macht das Geschehen am Kreuz zu einer Machtprobe zwischen Jesus und Satan. So hat jeder seine ihm eigenen Schwerpunkte. Aber alle sind sich darin einig: Der Tod Jesu ist die entscheidende Heilstat Gottes für die Welt. Geschieht uns zugute.

Die Besonderheit des Karfreitags liegt nicht in den besonderen Umständen des Leidens und der besonderen Art des Todes.

Wenn nun all das, was Stoff gibt von der Matthäuspassion bis zu den Passionsspielen in Oberammergau, eben nicht den Kern trifft, all das Hörbare - von den Hammerschlägen bis zu Jesu Todesschrei -, all das Sichtbare - von der dornenzerfurchten Stirn bis zu der weit klaffenden Wunde an Jesu Seite -, wenn nun all das nur die Menschlichkeit dieses Menschen und die Unmenschlichkeit der Menschen verdeutlicht, von Kain bis Auschwitz eine wüste Bahn - was dann? Worin liegt dann das Besondere des Karfreitags?

Ich befürchte, das Besondere ist uns verloren gegangen. Hier: leere Worthülsen, die die alten Bekenntnisse wiederholen, ohne deren Leben zuzulassen. Dort Geschäftigkeit. Die Welt hat längst alles dekorativ gelb bestückt.

Ein zweiter Glaubensartikel, der nur die ethische Geschäftsordnung des ersten ist: Wir glauben an Gott - und verhalten uns so wie Jesus.

Ich habe auch lange gebraucht, bis ich das verstanden habe. Für Gott ist es zwingend notwendig, und ich habe das nicht zu hinterfragen, dass er seinen Sohn opfert für diese verkehrte Welt. Gott ist verlassen, verraten, hat sich verkauft. Gottes Sohn ist ein Gekreuzigter. Der Messias kommt aus den Reihen der Geschlagenen. Der Menschensohn trägt das Brandmal eines Sklaven. Der Rabbi ist von seinen Schülern verlassen. Gott hat alles Göttliche abgelegt. Christus geht den Weg, der uns bestimmt war, damit wir den Weg finden, den wir uns selbst verbaut hatten, den Weg zu Gott.

Der Karfreitag ist der Scherbenhaufen der herkömmlichen Versuche. Der Mensch, in der Gestalt Jesu, der wahre Gott in der Gestalt des wahren Menschen, ist an seinem Ende. Die Verkehrtheit der Welt ist geblendet von ihrer Macht: „Du hast doch anderen geholfen!" Die verblendete Welt wird zum Zeugen der Liebe. Bezeugt, dass es der Helfer ist, der da hängt. „Du hast doch anderen geholfen. Nun hilf dir selbst!" Die verkehrte Welt versteht nicht, dass es darum nicht geht. Dass hier Gottes Willen geschieht, und nicht der Wille Roms oder Jerusalems.

Keiner spürt an den Nieren und im Herzen, dass in diesem Elend eben Gott die Vergangenheit beschließt und einen neuen Bund mit den Menschen aufrichtet. Ein neues Kapitel. Unabhängig von menschlicher Treue. Besiegelt mit dem Tod Jesu. Verstehe, wer kann.

Dann bebt die Erde. Der Himmel verfinstert sich. Drohende Wolken am Horizont. Gräber brechen auf. Der Vorhang im Tempel zerreißt in zwei Teile. Die Ordnung steht auf dem Kopf. Sieh, dieser Mensch. Wahrhaftig der Sohn Gottes. Aus dem Blut des Toten, in den Scherben des Alten ein neuer Bund. Weg, Wahrheit und Leben. Wir Menschen können umkehren. Gott hat es getan.

Gerhard Engelsberger

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