Ein belesener, „queren Gedanken" gegenüber sehr aufgeschlossener Freund schenkte mir dieser Tage ein spannend-rätselhaft-provokatives Buch. Schon der Titel provoziert Stirnrunzeln:
„Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten. Ausgewählte Sprengsätze."
Das Buch stammt von dem 1914 in Bogota/Kolumbien geborenen Schriftsteller Nicolás Gómez Dávila (1994 verstorben) und ist 2007 bei Eichborn/Frankfurt erschienen.
Dávilas schriftstellerisches Credo: „Ein Schriftsteller, der seine Sätze nicht quält, quält seine Leser."
Ich möchte (nicht ohne homiletische Hintergedanken) einige in sich abgeschlossene Sätze - das 316-seitige Buch besteht eigentlich nur aus Aphorismen, „Sprengsätzen", selten länger als drei oder vier Zeilen - mit Ihnen teilen, fern davon, sie zu bündeln oder zu interpretieren. Ich gebe keine Seitenzahl an. Ich habe angestrichen, geblättert, abgeschrieben, was mich eben beim Schreiben des Editorials „angesprungen" hat. Zum Beispiel:
Das Scheitern des Christentums ist christliche Doktrin.
Nur die Ideen retten vor den Adjektiven.
Der intelligente Mensch hält seinen Verstand auf einer Temperatur, die unabhängig von der Temperatur der Umgebung ist, in der er lebt.
Die Hölle ist ein nur vom Paradies aus zu erkennender Ort.
Nur die Unterwerfung vor Gott ist nicht niederträchtig.
Um den Menschen auszubeuten, predigen die einen, dass er auf irdische Güter verzichten soll; andere verkünden,
um ihn besser auszubeuten, dass er nach irdischen Gütern trachten soll.
Eine bestimmte Art, die „geistigen Werte" zu verkünden, weckt automatisch Zweifel an der Ehrlichkeit des Sprechers.
Was nicht kompliziert ist, ist falsch.
Wie kann der leben, der nicht auf Wunder hofft.
Nichts besticht mich am Christentum so wie die wunderbare Unverschämtheit seiner Doktrinen.
Es gibt Menschen, die ihren Verstand besuchen, und andere, die in ihm hausen.
Was nicht religiös ist, ist nicht interessant.
Wer der gegenwärtigen Welt nicht den Rücken kehrt, entehrt sich.
Eher als Christ bin ich vielleicht ein Heide, der an Chris-tus glaubt.
Seele ist, was den Dingen geboren wird, wenn sie dauern.
Gott ist das Ärgernis des modernen Menschen.
Weise ist nicht so sehr jener, der die Wahrheit sagt, als jener, der die genaue Richtweise dessen kennt, was er sagt. - Der nicht mehr zu sagen glaubt, als er sagt.
Der Skeptiker ist ein Philosoph, der keine Zeit hatte, Christ zu werden.
Gott ist der Name des einzigen Rätsels, dessen Entschlüsselung keine Enttäuschung wäre.
Früher griffen die Narren die Kirche an, heute reformieren sie sie.
Wenn der Zelebrant bekennt, dass die Liturgie nicht auf die Götter, sondern auf die Gläubigen wirken soll, verliert der Kultus jede religiöse Bedeutung und wird zur Kollektivtherapie.
Die Kirche der Gegenwart schließt die Demokratie nicht in die Arme, weil sie ihr vergibt, sondern damit die Demokratie ihr vergibt.
Die Wasser des Abendlandes sind faulig, doch die Quelle ist rein.
Der Welt geht es gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, wer sie regiert.
Was von Gott trennt, ist weniger die Sünde als der Wunsch, sie zu rechtfertigen.
Die Seelen, die das Christentum nicht zurechtstutzt, reifen nie.
Verblüffend: Glaubensbekenntnisse der Ungläubigen.
Der moderne Klerus glaubt, den Menschen näher an Christus heranzuführen, wenn er dessen Menschentum betont. - So vergisst er, dass wir Christus nicht vertrauen, weil er Mensch ist, sondern weil er Gott ist.
Der Ungläubige kann intelligent sein; der Häretiker ist meistens dumm.
Linker zu sein heißt glauben, die Vorzeichen der Katastrophe seien Omnia von Wohlfahrt und Glück.
Reaktionär sein heißt begriffen haben, dass man weder beweisen noch überzeugen kann, nur einladen.
War's Ihnen schon zu viel? Ich habe jedenfalls nicht besonders eigens ausgewählt, sondern geblättert. Ich habe das Geschenk des Freundes und das Blättern in dem Buch mit „zwiespältigen Gefühlen genossen" - begeistert und ertappt gleichermaßen. Und die Auswahl ist klein. Ich schätze, das Buch enthält gut 2.500 solcher ärgerlicher, wunderbarer Preziosen.
Für diejenigen, die einen der wenigen längeren Texte schätzen könnten, die folgenden zusammenhängenden Gedanken:
„Wenn wir irrtümlicherweise voraussetzen, dass das 18. Jahrhundert dem 19. ein unversehrtes Christentum über-gab, scheint uns die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts von einem satanischen Geist der Aggression gegen Gott getrieben. Aber die Richtung der Aggression ändert sich, wenn wir unsere irrtümliche Prämisse korrigieren.
Der Hintergrund der modernen Literatur ist ein sterbendes Christentum. Die Säkularisierung der Welt hat ihren Höhepunkt mit der Generation, die der ersten Generation der Romantiker voranging. Die moderne Literatur ist also kein Aufstand gegen das Christentum, sondern gegen jene, die sein Erbe an sich rissen.
Für eine zurechtgerückte historische Sichtweise leitet die flüchtigste Bestätigung eines autonomen Wertes, wie etwa die gotteslästerlichste Rebellion im Namen irgendeines Wertes, einen Prozess existenzieller Apologetik ein.
Seit der Romantik ist die Literatur nicht nachchristlich, sondern vorchristlich. Ihr Ausgangspunkt ist nicht das Christentum, sondern seine Verneinung. Weder Blake noch Hölderlin noch Vigny schreiben gegen das Chris-tentum, sondern gegen eine Welt, die durch die Abwesenheit des Christentums bestimmt ist.
Die großen modernen Dichter, von Goethe bis Yeats, sind keine Abkömmlinge des Prometheus, sondern Sprösslinge der prophetischen Sibyllen."
Sie verstehen wahrscheinlich, dass ich in diesem Buch nicht mehr vor dem Einschlafen blättere, sondern in sehr wachem Zustand lese. Gelegentlich. Aber immer und ausschließlich zum eigenen „Gewinn"; wobei bei einem solchen Gedanken Dávila wahrscheinlich zwei Sätze hätte, die er mir - vermutlich berechtigt - um die Ohren hauen würde.
Darf ich den klugen Autor noch einmal zitieren:
„Ein Schriftsteller, der seine Sätze nicht quält, quält seine Leser."
Ich mache daraus: „Ein Prediger und ein Vorbeter, der seine Sätze nicht quält, quält seine Hörer." (Das gilt im Übrigen auch für Predigerinnen, Vorbeterinnen und Hörerinnen. Damit kein falscher Eindruck entsteht.) Aber auch mit diesem Klammer-Nachsatz hätte ich wahrscheinlich bei Dávila schlechte Karten gehabt.