Beim Häuten der Zwiebel – öffentlich glauben

Bei Christa Wolf lese ich einen Beitrag zu Günter Grass' „Beim Häuten der Zwiebel“ (Göttingen 2006). Sie überschreibt den Artikel „Autobiographisch schreiben“ (in: Christa Wolf, Rede, daß ich dich sehe, Suhrkamp Berlin 2012, SA.42f).

Spontan erinnerten mich ihre Worte an den homiletischen Vorgang, den ich in meinem „Kleinen Spirituale“, Gütersloh 2004, als „öffentlich glauben“ bezeichnet habe.

Zuerst jedoch Christa Wolf:

„Unverhüllt autobiographisches Schreiben ist unter den vielfältigen Schreib-Möglichkeiten zugleich die leichteste und die schwerste: leicht, weil der oder die Schreibende sich im Stoff bewegt wie der Fisch im Wasser; weil alles bekannt, vertraut ist, nichts erfunden werden muß (oder darf) - vielleicht, daß, um des lieben Friedens willen, einige Namen verändert, einige Handlungsorte verschleiert werden. Aber man schöpft aus der Fülle.

Das schwerste ist es, weil es, soll es gelingen, bekennendes Schreiben sein muß, was meistens heißt: Es muß weh tun. Es muß mühsam sein. Es muß an die Nieren gehen. Es wird von Krisen begleitet sein, nicht nur von den unvermeidlichen Schreib-Krisen, sondern von Persönlichkeitskrisen, von Selbstzweifeln, die den Kern des eigenen Selbstverständnisses betreffen; nicht zuletzt aber von der Hemmung, das, was man sich selbst eingesteht, was man endlich ausgesprochen hat, nun auch der Öffentlichkeit auszusetzen.

Daß man das schließlich immer wieder wagt, läßt sich unter anderem durch einen merkwürdigen, in den Genen von Autoren anscheinend angelegten Vorrat von Naivität erklären, der sich offenbar immer wieder auffüllt und den Autor, die Autorin trotz aller gegenteiligen Erfahrung letzten Endes, unbewußt natürlich, immer wieder, indem sie ihr Buch veröffentlichen, auf ein Wunder hoffen läßt, auf Verständnis.

Ich spreche also von Günter Grass, der beim Häuten der Zwiebel sich selbst häutet und seine Haut zu Markte trägt - so kann man wohl dieses im Text nicht immer stimmige Bild deuten. Aber ich spreche auch aus der Generation heraus, der er wie ich angehören und der in unserer Lebenszeit, der jüngeren Geschichte dieses Landes, das noch vor kurzem zwei Länder war, kein harmloser, von Brüchen, Widersprüchen, Belastungen, Fehlleistungen, Versagen freier Lebenslauf zugewiesen ist. Nach einem umfangreichen Erzählwerk, das diese Motive immer wieder aufnimmt, mal schwächer, mal stärker, oft in phantastischer Form, hat Günter Grass sich, spät, entschlossen, sie direkt und auf seine Person bezogen anzugehen: ein Prozeß - passendes Wort - der Selbstfindung, mit dem Risiko, verlorenzugehen in dieser Zeit, die nicht enden will. Ein deutsches Buch.“

Besonders berührt hat mich der Satz: „Das schwerste ist es, weil es, soll es gelingen, bekennendes Schreiben sein muß, was meistens heißt: Es muß weh tun. Es muß mühsam sein. Es muß an die Nieren gehen. Es wird von Krisen begleitet sein, nicht nur von den unvermeidlichen Schreib-Krisen, sondern von Persönlichkeitskrisen, von Selbstzweifeln, die den Kern des eigenen Selbstverständnisses betreffen … Daß man das schließlich immer wieder wagt, läßt sich unter anderem durch einen merkwürdigen, in den Genen von Autoren anscheinend angelegten Vorrat von Naivität erklären, der sich offenbar immer wieder auffüllt und den Autor, die Autorin trotz aller gegenteiligen Erfahrung letzten Endes, unbewußt natürlich, immer wieder, indem sie ihr Buch veröffentlichen, auf ein Wunder hoffen läßt, auf Verständnis.

Ist es beim Predigen nicht ebenso?

Und häuten wir uns mit den Jahren nicht auch wie die Grass'sche Zwiebel?

Haben wir nicht auch Erinnerungslücken, erleben Brüche und Sprünge und bleibt beim „Öffentlichen Glauben“ nicht auch gelegentlich Versagen?

Weiter unten schreibt Christa Wolf auf S. 43:

„Wie oft in seinem Leben wird man ein anderer?“

Was mich daran interessiert: Was bedeutet das für das Amt, dem es aufgetragen ist, „öffentlich zu glauben“? Was bedeutet es für die Gemeinden, denen gepredigt wird? Was bedeutet es für Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich auf eines oder auf mehrere „Bekenntnisse“ verpflichtet haben?

Gelegentlich lese oder höre ich Gedanken, denen man weder Brüche noch Sprünge, weder Zweifel noch Feier, weder Kränkung noch Schuld anmerkt.

Ich spüre solchen Gedanken kein Leben mehr ab. Sie sind perfekt. Sind aus dem Leben genommen. Anders gesagt: Sie sind tot.

Damit jemand, die oder der öffentlich glaubt, nicht in diesem Sinn hart und perfekt wird, ist auch Abstand nötig, nicht nur der längere im Urlaub, sondern auch der kürzere - mitten im Alltag.

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