Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?
Jeremia 23,23
„Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“, singt ein beliebtes Lied. Aber ist Gott immer nur ein lieber Gott? Ein alter Prophet hat in diesem Monat das Wort. Er spricht zu uns ernste Worte. Nein, sagt er. Oft ist Gott ganz anders. Oft ist er rätselhaft. Oft müssen wir erst mühsam wieder um Gottvertrauen ringen.
Da ist die Lebenskrise, in der das Bisherige wie ein Kartenhaus zusammenkracht, die beängstigende Diagnose, der Moment, in dem der geliebte Mensch zum Feind wird. Wie kann das geschehen?
Wie kann denn Gott so etwas zulassen, so fragen wir, wenn die Nachrichten von Erdbeben berichten oder vom Autounfall einer jungen Familie. Da spüren wir keinen Gott, der die Welt lenkt. Das kratzt an dem Bild, das wir uns von Gott malen. Immer wieder fällt Gott aus dem Rahmen, den wir für ihn gebastelt haben.
Erinnern Sie sich an den Tag, als sich das Meer aufbäumte, an den schrecklichen Tsunami vor fast acht Jahren? In aller Welt wurde gerade Weihnachten gefeiert. Mitten in unsere Weihnachtszimmer platzte die grausige Nachricht. Ein Seebeben, eines der stärksten Beben überhaupt, verursachte die riesige Flutwelle. 231000 Menschen starben und ganze Landstriche wurden verwüstet. Wo warst du, Gott, als das geschehen ist? Wo war da der liebe Gott? Wo war er am Tag des Fukushima-Erdbebens? Ganz viel Sprachlosigkeit war damals in mir. Ich weiß noch, wie schwer es mir fiel, am nächsten Sonntag wieder auf die Kanzel zu gehen.
Was für ein Gott lässt so etwas geschehen? Wie kann Gott zulassen, dass täglich in Afrika 6000 Kinder an schlechtem Trinkwasser sterben? Wie kann er zusehen, dass ein Kind an Krebs stirbt? Warum schwieg Gott durch die Jahre des Auschwitz-Wütens?
Katastrophen machen die einen zum Ankläger oder die anderen zum Verteidiger Gottes. Die Verteidiger sagen: Wir leben zwar in der besten aller Welten, trotzdem ist sie noch unvollkommen, denn vollkommen ist allein Gott. Du musst nicht fragen „warum“, sondern „wozu“! Die Flutwelle damals führte die Menschen weltweit wieder näher zusammen. Sie zeigte uns Menschen, wie klein wir sind, auch wenn wir uns einbilden, wie Gott zu sein. Und die Ankläger schreien ihre Klagen zum Himmel: Das zerstört mein Gottvertrauen und bringt mich so weit, dass ich meinen Glauben restlos verliere. Wie zerbrechlich und zutiefst unverlässlich ist doch mein Leben!
Ich glaube, es gibt eine geschniegelte und gebügelte Sonntagswelt des lieben Gottes, die wir uns zurechtbasteln, die aber im Ernstfall nicht hält. Es ist nicht unsere Aufgabe, Ankläger oder Verteidiger Gottes zu sein. Mir persönlich zeigen Fukushima oder die grausige Flutwelle, dass wir nicht Gott sind. Sie zeigen mir den Abstand zwischen Gott und Mensch. Manche denken ja: Man kann sich Gott mieten für besondere Anlässe. Macht er nicht alles so schön feierlich? Sie denken, sie können Gott für sich alleine haben und ihn anderen absprechen. Sie denken, sie können Gott einfach für sich benutzen. Sie behaupten, ihre Autorität komme von Gott, führen Kriege in Gottes Namen und sagen, das sei Gottes Wille so. Ich glaube, wir sind in Gefahr, Gott zu schnell begreifen zu wollen. „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?“, hören wir bei Jeremia.
Trotzdem erzählt Luther: „Da Magister Philipp Melanchthon todkrank dalag, habe ich im Gebet um ihn gerungen und hab’ gedrohet. So er sterben würde, würde ich unserem Herrgott den Sack vor die Füße werfen.“ Er rät: „Du musst Gott mit seiner Verheißung die Ohren reiben, bis sie heiß werden.“ „Du musst Gott in seinem Wort fangen: Du hast zugesagt: Also musst du’s auch tun!“ Mögen wir trotz allem, was passiert ist, das Vertrauen zum Leben wieder zurückgewinnen und immer wieder den Freundgott wiederfinden, der uns Menschen wohl will!