Du tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne
zu deiner Rechten ewiglich.
Psalm 16,11
Psalm 16, Text eines Leviten, eines Priesters im Jerusalemer Tempel, der dessen Lebenssituation beschreibt? Das ist gar nicht so unwahrscheinlich. Als unwahrscheinlich galt zu seiner Zeit ein Weiterleben nach dem Tode, der den Leviten in die Kult- und Tempellosigkeit der Unterwelt versetzen würde. Ein langes Leben wünscht er sich deshalb, was die Freude einschließt, wieder vor Gottes Antlitz im Tempel dienen zu dürfen.
Wie der Wochenspruch heute verstanden werden kann, zeigt mir mein Studienfreund. Die Ausbildung zum Diakon hatte er, Jahrgang 1940, nie beruflich umgesetzt, als ich ihn, Jahrgang 1950, erstmals Mitte der Siebziger bei einer elektrotechnischen Vorlesung traf. Wir wurden Freunde. Eine Freundschaft, die trotz zehn Jahren Altersunterschied und unser beider Verschiedenheit seit 42 Jahren besteht. Mein Freund, der sein Leben immer im Vertrauen auf Gott geführt hat, hatte sein Urteil empfangen. Nicht im Gerichtssaal, sondern im Besprechungszimmer des Arztes. Und es lautete auf acht Monate - Zeit zum Leben? Nein, Zeit zum Sterben. Denn dies sei, wie ihm eröffnet wurde, die maximale Zeit, die er noch zu leben habe. Pleuramesotheliom lautet die Diagnose, begründet durch den histologischen Befund des Pathologen. Pleuramesotheliom, hoch aggressiv, unheilbar.
Der Chirurg im Krankenhaus, der ihm zuvor die Unmöglichkeit einer Operation nahebrachte, macht ihm in einem zweiten Gespräch dennoch Hoffnung auf einen Aufschub durch Entfernung der Pleura (Brustfell). Eine trügerische Hoffnung - auf nicht mehr als drei Monate beläuft sich erfahrungsgemäß der Lebenszeitgewinn, die erhebliche Schwächung durch den Eingriff dabei nicht wertend.
Es ist die Schwiegertochter, eine angehende Medizinerin, die den Mut findet, ihm die Konsequenzen der schon lebenshungrig erwogenen Zustimmung zum Eingriff klar-zumachen.
Er konsultiert Schmerztherapeuten, Palliativmediziner, nimmt Kontakt zu einem Hospiz auf. Er „ordne“ jetzt sein Leben, sagt er. Er besucht seine Söhne, wandert gemeinsam mit dem ältesten durchs Berner Oberland, fährt mit seiner Frau an einen erinnerungsmächtigen Strand des Teutonengrills. Alles in dem Wissen, dass es das letzte Mal sein wird.
Als ich ihn besuche, ist es wie immer. Wir fahren ans Wasser, baden, gehen ins Strandrestaurant zum Essen. Unser Gespräch ist unverklemmt, nicht belastet von der Lebenswirklichkeit seiner Diagnose. Und dabei war mir doch so bange gewesen vor dieser Begegnung. Der Freund erzählt von dem Reichtum seines Lebens, den er unverdient empfangen habe, und davon, dass er nun auch sein restliches Leben in der Hand dessen liegen lassen werde, der ihn so beschenkt habe. Und gemeinsam lesen wir den 16. Psalm. Ganz besonders den letzten Vers: Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.
Ein alttestamentlicher Vers, den er mit neutestamentlichem Verständnis erschließt: Du tust mir kund den Weg zum ewigen Leben, zur Auferstehung, zum Wohnen bei dir, mein Gott.
Er hat erkannt, dass leben können auch sterben müssen heißt. Und er bereitet sich darauf vor, gerade wenn er seine letzten Tage voller Erleben sein lässt.
Mir ist so, wie Mascha Kaléko einst schrieb:
„Vor dem eigenen Tod ist mir nicht bang, doch vor dem Tod derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? … Bedenkt, den eigenen Tod, den stirbt man nur, doch mit dem Tod der anderen muss man leben!“
Durch den Freund lerne auch ich:
Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.