Toleranz

Gleichgültigkeit ist eine der schlimmsten Sünden unserer Zeit. Es ist die Kunst unserer Zeit, Gelassenheit und Gleichgültigkeit zu unterscheiden.

Toleranz ist angesagt 2013.

Eigenartig, wenn es so formuliert ist. Ich spüre die etwas „negative Spannung“ in diesem Satz. Zu vieles Intolerante ist angesagt und wirkt durch das „Angesagt-Sein“ eher als eine Pflicht, ein Muss.

Im Herbst letzten Jahres besuchte ich die beiden großartigen Barlach-Museen in Güstrow und den Güstrower Dom mit dem „Schwebenden“. Ich war tief beeindruckt insbesondere von der Gertrudenkapelle.

Dort ist der „Lehrende Jesus“ ausgestellt.

Jesus sitzt auf einem kniegerechten Sitz - Bank, Hocker, Stuhl - , hat die beiden Hände auf die angestellten Knie gelegt, offen, weit, unschuldig.

Der bei Barlach meist geraffte und in seinem Faltenwurf charakteristische Rock fällt über den Schoß und die beiden Knie. Die Schultern sind schmal, so wie man sie beugt, wenn die Brust unschuldig schmal offen ist. Keine stolze Brust. Kein allwissender Blick, keine Geste der Allmacht. Da sitzt einer und kann nur sagen, was er zu sagen hat. Es ist ein „schmales Evangelium“. So habe ich es gelegentlich genannt (Gerhard Engelsberger, Aus Überzeugung evangelisch, Stuttgart 2012), ohne diesen schmalen, lehrenden Jesus von Barlach zu kennen. Darüber ein Haupt, leicht lächelnd, aber nicht überlegen; offen; klarer Blick, als würde er fragen:

„… na und?“

Ich mag diesen Jesus.

Einem solchen gegenüber sind Vorbehalte unnötig.

Als ich in Güstrow lange vor dem Original stand, wurde er mir zum Bild der Toleranz.

Ich kenne große Christusbilder - den „Cristus redentor“, den erlösenden Christus aus Rio, Statuen wie die des „Christ roi“ über dem Tal der Rhône nahe Sion, oder die Darstellungen des Pankrators aus byzantinischen Kirchen. Sie sind wie viele andere Zeichen der Machtfülle, der Segensgeste, der Gewährung von Gnadengaben. Fügen Sie Ihnen selbst eindrückliche eigene Bilder hinzu.

Barlachs lehrender Jesus ist ganz anders.
Mir unsagbar viel näher.
Der „Macht“ stehe ich eh skeptisch gegenüber,
dem Segen allerdings offen.
Ich sehe in Barlachs Christus fast hilflos, fast
entschuldigend und damit so viele Fragen aufnehmend -
diese offenen Hände.
Er hat alles gegeben.
Da ist keine Gnadengabe zurückgehalten.
Offene Hände.
Nichts, was verborgen wäre.
Kein religiöses, kein finanzielles Geheimnis.
Kein „Aber“, auch nicht mehr ein „ich aber“.
Pure Unschuld.
Pure Toleranz.
Pure zugewandte Liebe.

Dieser Barlach-Jesus wird mein „Toleranz-Jahr“ begleiten.
Er ist nicht schwach. Er ist stark.
Er ist - nach vorne, für alle Fragen - offen.
Er ist ohnmächtig - wie eben in dieser Ohnmacht mächtig.
Er ist unschuldig - aber eben in dieser Unschuld nicht verwerfend offen für meine Schuld.
Er sitzt - nicht auf einem Thron, sondern auf Augenhöhe.
Er lehrt - ohne die Unbelehrten ihrer Unwissenheit zu zeihen.
Er ist kein Dulder - er ist frei.
Er ist nicht vage - er ist klar.
Er hat nicht. Er ist.
Er weist nicht bestimmend auf ein Buch.
Er zeigt nicht als Insider nach oben.
Er zeigt nicht kalt in irgendeine „Hölle“.
Er schlägt keine Hand aus.
Er könnte nicht einmal anders.
Diesem Jesus möchte ich mich im „Toleranz-Jahr“ der EKD anvertrauen.

Es möge kein Jahr sein, an dessen Ende wir Recht behalten.
Es möge kein Jahr sein, an dessen Ende man die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.
Es möge kein Jahr sein, in dem die Händler jubeln.
Es möge kein Jahr sein, in dem die Kläger jubeln.
Es möge kein Jahr sein, in dem man über die anderen Witze macht.
Es möge kein Jahr sein, in dem Karikaturen gelebte Bilder überbieten.
Es möge kein Jahr sein, in dem der eine über den anderen siegt.

Noch einmal nehme ich den „Lehrenden Jesus“, die offenen Hände, das offene Gesicht, den offenen Schoß. Noch einmal nehme ich die fast entschuldigende Geste, die Haltung des Barlach-Jesus.

Wenn Lehre dies wäre:
Das offene Ausbreiten all dessen, was ich zu „besitzen“ meine.
Die ohnmächtige Unschuld, die für alle Schuld offen ist.
Diese Sanftheit, die jeder Härte widersteht.
Diese Klarheit, die nicht vernebelt.
Diese Gelassenheit, die Nachlässiges, gar Unzulässiges eher erklärt.
Dieses Beugen unter die Wucht der Wahrheit,
unter die Liebe Gottes.

Am Anfang des 3., nach Jesus Christus gezählten Jahrtausends eine Phase des Hörens, Bleibens, sich Beugens und Bittens mit leeren Händen.

Unsere bisherigen Bestrebungen um Einheit laufen meist auf Kompromissformeln hinaus. Jeder gibt ein bisschen von dem Seinen her. Aber das ist doch unmöglich. Gerade das, was Grund war für meine Trennung, ist mir doch entscheidend wichtig für die Nähe zu Christus. Gerade da ist mir doch Christus gegenwärtig. Ich kann nicht meinen Charakter als Kirche aufgeben, um dann zum Schluss ein charakterloses Sammelsurium zu haben, das ich die „eine Kirche“ nenne. Das kann nicht der Weg sein.

Mein Weg als evangelischer Christ ist der, dass ich mich zuerst einmal darauf besinne, dass ich evangelischer Christ bin und was mir das sagt. Und das gilt für den Katholiken genauso. In dem uns jeweils Eigenen nun fragen: Wo ist darin Christus wirklich gegenwärtig? Bei dieser Selbstbesinnung beginnt der Weg zur Einheit der Christen.

Damit bin ich bei der Nagelprobe jeder Ökumene. Ein wahrer Ökumeniker muss gleichzeitig Christozentriker sein. Ein Christ, der die Nähe Jesu sucht, wird sich nach der Einheit seiner Kirche sehnen. Ein Christ, dem es um die Einheit geht, wird sie in der Gegenwart Christi suchen.

Für den Katholiken ist Christus gegenwärtig in der Messe, für den Lutheraner im Abendmahl, für den Reformierten in der Schriftauslegung, für den Methodisten in der Bekehrungsgpredigt. Und wenn ich nicht nach Konfessionen gehe, dann ist Christus für den einen gegenwärtig im Streben nach Frieden, für den anderen im liebenden Dienst im Hospiz, für den Dritten im Gebet und für den Vierten in der Verwirklichung von Gerechtigkeit. Aber was heißt das, wenn ich das ganz ernst nehme, wenn ich jeden bei seiner Herkunft und seiner Überzeugung ganz ernst nehme?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen katholischen Priester gibt, der angesichts der wirklichen Gegenwart Jesu Christi an dem Tisch, an dem er eben die Messe feiert, nur einen einzigen Menschen ausschließt von der Gemeinschaft mit seinem Herrn. Nein - ist Christus wirklich gegenwärtig, dann renne ich, überwältigt von der Freude, auf die Straße und trommle zusammen, wen ich finden kann.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen evangelischen Pfarrer gibt, der angesichts der wirklichen Gegenwart Jesu Christi beim Bibelwort einer Taufe noch daran denkt, dass er evangelisch, ein anderer katholisch ist. Nein, er wird die Glocken läuten, auf die Straße rennen wie ein Verrückter, wie die damals an Pfingsten, und wird schreien: Er ist da! Er ist wirklich da!

Und so wird es dem passieren, der in dem Krebskranken die Gegenwart Christi entdeckt oder wo und wie auch immer.

Der Weg zur Einheit wird immer wieder neu an dieser Stelle beginnen müssen. Da, wo Jesus gegenwärtig ist in meinem Leben oder in unserer Kirche, nicht theoretisch, sondern wirklich, real präsent, da suche ich nicht nach Kompromissformeln, da lade ich ein. Nicht anders ist es in Ehe, Schulklassen, in der Gemeinde, in der Verantwortung aller Menschen für die Erde, dieser mit 100.000 Stundenkilometern durch das Weltall rasenden Arche Noah - wenn wir denn als Ehepartner oder Freunde oder Menschen auf diesem Planeten eine Einheit sein wollen: Das, was mir am allerwichtigsten ist, will ich mit anderen teilen. Das Schönste kann ich nicht für mich behalten. Bezogen auf die Kirche, sagt Bonhoeffer: Kirche ist als Kirche Jesu Christi eine Kirche für andere.

Besuchen Sie die Getrudenkapelle in Güstrow.
Und morgen ist noch ein Tag,
an dem Toleranz gefragt ist.
Übermorgen auch noch.
Wie immer. Und so geht das weiter.
Über Enkel und Enkelkinder.
Wir machen nicht das Ende.
Das Ende ist offen.
Wie immer. Und so geht das weiter.
Gott sei Dank!

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