Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten, denn an solchen Opfern findet Gott Gefallen.
Hebräer 13,16
Von Dorothee Sölle (1929-2003) gibt es ein Gedicht über eine kleine Frau mit einem großen Vermögen. Eine kleine Frau, die von ihren Gaben austeilt und dies wohl kaum merkt. Sie verliert ja auch nichts. Sie gewinnt eher. Ein Gedicht sogar.
Millionärin der liebe
Mein jüngstes kind sagt mir am telefon
dass es die zeit in der ich fort bin berechnet
in sekunden es macht genau
sucht sie die lange zahl
und bringt sie stockend hervor
es ist noch eine million
siebenhundertzweiundsiebzigtausend
fünfhundertundsechsunddreißig sekunden
bis du wieder da bist mama
Dorothee Sölles kleine Millionärin zählt. Mehr noch: Sie berechnet die Sekunden der Abwesenheit ihrer Mutter. Ich weiß nicht, wie alt die kleine Frau war, als sie ihre Berechnung anstellte. Sie war jedenfalls noch ein Kind. Die jüngste Tochter einer Mutter, die über mehrere Wochen nur telefonisch erreichbar ist. Heute wären beide über Skype verbunden. In den frühen 1980er Jahren, als Sölle ihr Gedicht schrieb, standen Familien noch nicht einmal E-Mails zur Verfügung.
Aber es gab Telefonate von einer Intensität, die einen mitten ins Herz treffen konnte. Liebe kann - ungeachtet aller räumlichen Entfernungen - eine Nähe schaffen, die überwältigt. Dafür findet sie auch heute noch Wege, obwohl revolutionierte Kommunikationsnetze die Sehnsucht überflüssig zu machen scheinen.
Sehnsucht gibt es noch immer. Die Sehnsucht nach der spürbaren Nähe eines anderen Menschen. Skype mag die Sehnsucht mildern. Es kann sie nicht verhindern.
Dorothee Sölles kleine Millionärin der Liebe war sehnsüchtig. Sie war also bedürftig. Hatte sie überhaupt etwas zu geben? Tat sie Gutes?
Dorothee Sölle hat ihre kleine Tochter nicht nur als bedürftig erlebt. Ihr fiel vor allem auf, dass ein kleiner Mensch sich hinsetzte und rechnete. So stark war die Liebe der kleinen Frau, dass sie über Zahlen Klarheit suchte. Das hat sie ihrer Mutter mitgeteilt. Und die hörte nicht nur die lange Zahl. Sie erkannte die Liebe, die hinter der Zahl stand. In den Augen der Mutter verwandelte sich ihre kleine Tochter in eine Millionärin der Liebe. Eine Millionärin, die sie, die Mutter, mit Liebe überhäufte. Ein kleiner Mensch wurde sie, der Gutes tat.
Menschen, die lieben, tun manchmal Gutes, ohne es zu wissen, sogar ohne es zu wollen. Sie tun nur genau das Richtige im passenden Moment. Das ist das Überwältigende. Als hoch begabt erscheinen mir diese Menschen. Als liebesbegabt. Als Millionäre der Liebe.
Jeder und jede von uns kann zu einem Millionär, einer Millionärin der Liebe heranwachsen. Das sind wohl die schönsten Momente in unserem Leben. Die Augenblicke, in denen wir nicht daran erinnert werden müssen, dass wir Gutes tun sollen. In der Geschäftigkeit unseres Alltags aber können wir dafür das Gespür verlieren.
Wegen unserer Geschäftigkeit brauchen wir manchmal Zeilen wie die aus dem Hebräerbrief. Zeilen, die so moralisch klingen wie: „Vergesst nicht, einander Gutes zu tun und an der Gemeinschaft festzuhalten, denn an solchen Opfern findet Gott Gefallen.“ Das klingt moralisch und banal. Aber überflüssig sind solche Sätze in profitorientierten Zeiten trotzdem nicht.
Menschen wissen übrigens kaum genau, was Gott gefällt. Immerhin wissen wir - oft aus eigener Erfahrung: Die Freude, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück.
Die Freude, die die kleine Millionärin der Liebe im Herzen ihrer Mutter auslöste, wird sie gespürt haben an ihrem Ende der Telefonleitung. Dorothee Sölle ist vor zehn Jahren gestorben. Spürt ihre Tochter diese Liebe gar heute noch, wenn sie das Gedicht ihrer Mutter liest? Könnte es sich also lohnen, zu lieben und Gutes zu tun?
Ich denke, es lohnt sich durchaus, zu lieben und Gutes zu tun. Aber die Frage nach Effektivität und Nachhaltigkeit fällt völlig flach in jenen Momenten, in denen man Gutes tut, einfach nur, weil Gott einem die Chance gibt, ein Millionär, eine Millionärin der Liebe zu sein.
Literatur: D. Sölle, Das Brot der Ermutigung - Gedichte, GW Bd 8, Hrsg. von U. Baltz-Otto u. F. Steffensky, Stuttgart 2008, S. 133.