Sei getreu bis in den Tod – Predigt zum Volkstrauertag

Nun war sie gestorben, die Mutter. Sie hatten es kommen sehen. In den letzten Wochen war sie weniger und weniger geworden. Und war doch ohnehin nie viel gewesen; eine kleine, zähe, beherzte Frau. Und selbstständig. Bis ins hohe Alter war sie so geblieben. Dann kam der Sturz. Schenkelhals. Krankenhaus. Sie hat sich nicht mehr erholt. Manchmal hatte er den Eindruck, sie habe diesen Sturz als Signal gedeutet. Als Signal zum Aufbruch, also zum Sterben.

Und nun betritt er ihre Wohnung; er, der Sohn. Das Haus seiner Kindertage. Das bescheidene Eigenheim, das der Stolz der Eltern gewesen war. Von Hand ausgeschachtet mit Hilfe der Nachbarn. Schubkarre um Schubkarre. Dann gebaut, „Stein auf Stein, Stein auf Stein; das Häuschen soll bald fertig sein“.

Sie hatten oft davon erzählt. Als er den Flur betritt, sieht alles aus wie immer. Aber es fühlt sich anders an. Als wäre plötzlich etwas Vergangenheit geworden, was vor einem Atemzug noch Gegenwart war. Der vertraute Geruch der Wohnung hüllt ihn ein. Aber die Mutter fehlt. Ihre Stimme; ihre Geräusche, wenn sie sich zu schaffen machte, Kaffee oder Vesper auf den Tisch brachte; ihr zuletzt weißes, aber immer noch schönes Haar, von dem immer ein paar vorwitzige Strähnen dem altmodischen Knoten entkamen. Er setzt sich. Sitzt in der Küche am Tisch mit dem Wachstuch. Auf einmal ist alles wieder da. Die Kindheit, die Jugend, die ungezählten Mahlzeiten an diesem Tisch, die Gespräche, die Sorgen ums Geld und um die Schulnoten, die Diskussionen; die Sonntage, an denen man noch Sonntagskleider anzog und zum Kaffee das gute Geschirr aus dem Schrank holte. Er schluckt gegen den Kloß im Hals. Seine Augen brennen. Er schließt sie.

„Bring mir auch meine Bibel mit“, hört er ihre Stimme. Da ist sie schon schwach. Da liegt sie schon im Krankenhaus. „Bring mir auch meine Bibel mit. Sie liegt daheim im Nachttisch.“ Warum hat er es nur vergessen? Jetzt macht er sich Vorwürfe. - Na ja, bei ihm selber liegt sie eben nicht im Nachttisch. Wo ist sie überhaupt, seine Konfirmandenbibel? Er hat sie lange nicht in der Hand gehabt. Und zur Hochzeit haben Sabine und er doch auch eine Bibel bekommen. Da müsste er gerade mal danach gucken. Aber nun erst mal die Bibel der Mutter. Er steht auf. Geht ins Schlafzimmer hinüber. Das Ehebett der Eltern. Sie hatte weiter in dem großen Doppelbett geschlafen. Auch wenn der Vater nun schon acht Jahre tot war. Hier war er gestorben. Sie hatte ihn gepflegt. Beherzt und zäh, wie sie war. Aber das hatte sie an ihre Grenzen gebracht. Damals hatte er Angst, sie würde ihm nach-

sterben. Erstaunlich, wie sie sich dann langsam erholt hatte, wie sie die Trauer trug, wie sie sich tapfer arrangierte mit dem Alleinsein.

Er nimmt den Geruch wahr. Es riecht nach Alter. Aber darunter, leicht und flüchtig, Lavendel. Das war der Duft seiner Mutter. Die Säckchen im Wäscheschrank. Das Duftwasserfläschchen im Bad. Ihr Luxus. Er lächelt.

Er geht zum Nachttisch. Aus dem Bilderrahmen neben der Nachttischlampe blickt ihn der Vater an, ernst und freundlich; die Spuren eines langen Lebens im Gesicht. Geschichten, die sich eingegraben haben. Erste Anzeichen der Krankheit, an der er dann starb. „Papa“, fährt es ihm durch den Kopf, „hast dich tapfer geschlagen.“ Er zieht die Schublade auf. Da liegt die Bibel. Er nimmt das schwere schwarze Buch in die Hand. Er geht wieder hinüber an den Küchentisch, setzt sich, schlägt die Bibel auf, liest das Widmungsblatt: „zur kirchlichen Trauung am 25. März 1941/ Offenbarung 2,10: Christus spricht: ,Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.‘“

„1941“, denkt er, „da war schon Krieg. Wie mag sich das angefühlt haben, in Kriegszeiten zu heiraten? Bei der goldenen Hochzeit, da hatten die Eltern ein bisschen davon erzählt: Wir waren jung und sehr verliebt. Wir wollten halt zusammen sein. Und falls etwas passiert, sollten Frau und Kinder auch abgesichert sein. Aber der Ernst der Lage war uns bewusst. Unsere Liebe, unsere Zukunft, war vom Krieg bedroht. Onkel Frieder war schon einberufen worden. Sein Glückwunsch traf per Feldpost ein. Er hat sich aus der Ferne mit uns gefreut. - Den Brief hatte der Vater lebenslang aufbewahrt. Seinen Bruder hat er nicht mehr wiedergesehen. Zwei Jahre später kam die Meldung: gefallen! Aber bei der Hochzeit war er noch am Leben.

Der Pfarrer hatte den Trauspruch ausgesucht. Als er ihn vorlas, war der Großvater zusammengezuckt: Bloß nicht schon wieder diesen Vers (!), hatte der Großvater innerlich gepoltert. Den hat uns damals der Feldprediger flammend gepredigt, als wir anno 1914 gegen Frankreich zogen. Von wegen Treue zu Vaterland, Gott und Kaiser; Heldentod, wenn es sein muss; Feld der Ehre usw. - Und dann war er mit knapper Not dem Heldentod entronnen; kam heim versehrt, sodass seine Frau in Tränen ausbrach, als sie ihn so sah. Und er hatte mitgeweint. Jetzt war ein Sohn im nächsten Krieg, und er sollte bei der Hochzeit des andern wieder auf diesen Bibelvers hören!

Sein Zorn hatte sich dann, während des Zuhörens, allmählich gelegt. Denn der Pfarrer predigte nicht von der Treue zum Führer. Er predigte von der ehelichen Treue, die bis an den Tod reichen soll. Dass sie viel Durchhalte-vermögen brauche. Dass sie sich zu bewähren habe in schweren Zeiten und mancherlei Anfechtungen. Dass es die Treue schwer habe in diesen Zeiten, aber manchmal regelrechte Wunder vollbrächte. Dann predigte er von der Treue Jesu Christi, die Vorbild aller Treue sei, weil sie dem Leben und der Liebe treu war bis in den Tod. Dass Jesus aus Treue zu Gott und uns Menschen gestorben sei. Und dass seine Treue größer sei als alle unsere Untreue. Er erzählte von den Christen in Smyrna, im zweiten Jahrhundert, denen dieses Wort aus der Offenbarung als Ersten galt. Wie sie in der Situation der Verfolgung durch dieses Wort gestärkt worden seien, weil sie wussten: Der treue Christus ist bei ihnen. Er nimmt Anteil an ihrem Leiden. Er hilft ihnen hindurch. Und dann wird Christus allen, die im Glauben durchhalten, in der Ewigkeit den Siegeskranz aufs Haupt setzen. Am Ende hatte der Pfarrer noch einmal die Stimme gesenkt und sehr eindringlich gesprochen: „Es kommt darauf an, wer das sagt: ,Sei getreu bis an den Tod.‘ Es kommt darauf an, wer das sagt! Christus, der aus Liebe zu uns gestorben und auferstanden ist, der ist glaubwürdig.“

Was er damit gemeint hat, das ist mir erst viel später aufgegangen, hatte der Vater ihm einst bekannt. Das ist mir erst aufgegangen, als ich selbst an die Front musste, und als ich spät, zu spät, erkannte, dass man meine Treue ausgenutzt hatte. Weißt du, Junge, hatte er einmal gesagt - weißt du, wenn man einen Menschen erschossen hat - einen Menschen, der kaum älter ist als man selbst und der vielleicht auch eine junge Frau daheim hat, die um ihn bangt - wenn man das getan hat, ist man hinterher nicht mehr derselbe. Dann weiß man, dass man die Krone des Lebens nicht verdient. Da hilft auch kein Orden. Ich glaub nicht mehr an den Krieg. Ich hab zu viel gesehen. Hoffentlich musst du das nie erleben. Ich glaub nur noch an die Treue Jesu. Das heißt: Ich hoffe darauf, hatte er leise hinzugefügt.

„Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ Sein Blick bleibt noch an dem Trauspruch der Eltern hängen. Ein Gefühl der Dankbarkeit steigt in ihm auf. Eigentlich hatten sie tapfer durchgehalten. Hatten ihre Kinder großgezogen, so gut sie es eben konnten. Waren ihnen auf ihre Art treu gewesen. Auch als seine Schwester mit achtzehn ein Kind bekam. Auch als er Sabine heiratete, die so anders aufgewachsen war als er; die den Eltern immer ein bisschen fremd blieb. Einen Augenblick dachte er an seine eigene Ehe. Treue? Na ja. Aber bis jetzt waren sie immerhin beieinander geblieben. Hatten sich irgendwie immer wieder zusammengerauft. Die Kinder haben geholfen. Und wer weiß, wer noch alles? Gott? So selbstverständlich wie die alten Eltern konnte er nicht an Gott glauben. Sein Leben war so anders. Irgendwie komplizierter. Ja, als die Kinder geboren wurden, da hatte es ihn ergriffen vor Dankbarkeit. Vater sein dürfen! Das war ihm damals wie eine Aufgabe von ganz oben vorgekommen.

Du meine Güte! Wie lang sitz‘ ich hier schon? Schreckt er plötzlich auf. Sein Blick fällt auf die aufgeschlagene Bibel. Den Spruch kann er noch lesen, Datum und Unterschrift des Pfarrers schon nicht mehr. Es dämmert draußen. Das Licht weicht aus der kleinen Küche. Noch einmal denkt er an die Mutter. Ihre kleine, zähe, beherzte Treue. Als es ans Sterben ging, hatte er sie einmal gefragt: „Hast du keine Angst, Mama?“ Sie hatte sacht, aber entschieden den Kopf geschüttelt und auf das Kreuz gedeutet, das an der Wand hing. Dann hatte sie gelächelt, als hätte sie noch was vor. Als hätte sie noch eine Verabredung.

Er schließt die Bibel. Er steht auf. Er nimmt das schwere schwarze Buch an sich und geht. Seltsam, denkt er noch - seltsam, wie jeder im Leben so seine Kämpfe durchzustehen hat. Bin gespannt, was da noch auf mich zukommt.

Liedvorschlag: 558,1.3-6 (Des Menschen Sohn wird kommen)

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