und in kürzeren Sätzen

„Wir leben länger, aber ungenauer und in kürzeren Sätzen.“
(Wieslawa Szymborska, Glückliche Liebe und andere Gedichte, Frankfurt 2012, S. 65)

Was die gefeierte polnische, 2012 gestorbene Lyrikerin Wieslawa Szymborska schreibt, ist die Kurzfassung gegenwärtigen Lebens: Wir leben länger (die Kranken- und Pflegekassen brauchen mehr Geld, die Politik sorgt sich um die Alterspyramide), aber ungenauer (die Bildschirme werden immer größer und breiter, die Sichtfenster unserer Herzen immer kleiner; die Hektik baut Fehler ein, die Unterhaltung wird oberflächlicher - sowohl am Stammtisch wie über die Medien) und in kürzeren Sätzen (Ärzte, Schwestern und Pfleger haben pro Patient immer weniger Zeit; an der Kasse der großen Discounter steht man Schlange und murrt innerlich schon, wenn dreimal hintereinander jemand mit Karte bezahlt, unterschreiben muss etc.; G8 raubt den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ein Lebensjahr; einer meiner Söhne - Gymnasiallehrer - spürt, wie stark in der Entwicklung das eine Jahr fehlt und wie stark der Druck ist, in 8 Lebensjahren den sonst auf 9 Lebensjahre verteilten „Stoff“ zum eigenen Wissen und Erfahren zu machen).

Nichts anderes lese ich und höre ich in der Fachliteratur oder in den Verlautbarungen der meisten Rundfunksender: kein Wortbeitrag über 3 Minuten, keine Predigt über 10 Minuten.

Früher beschimpften die Belesenen und Gebildeten den Code der einfachen Menschen als „reduziert“. Heute sind sie selbst mehr und mehr gezwungen, in Kommandos anzuweisen, in shortcuts zu schreiben und in Überschriften zu denken.

Ob sich das aufhalten lässt?

Ob nur noch in geschützten Räumen - früher scheint dies das „Herrenzimmer“ gewesen zu sein oder gar das „Raucherzimmer“ - eine so freie, spielerische, offene Gesprächsatmosphäre herrscht?

Verblödete Unterhaltungssendungen dürfen „überziehen“, Kulturformate nicht.

Die Medien schauen auf die Quote, die Witwe in der Kirche auf die Uhr, der Patient steht unruhig auf und geht zur Rezeption, die Frau in der Schlange räuspert sich laut - wir drängen einander zu ungenauer Beobachtung oder Beachtung des Nächsten. Und wir sind - mit Blick auf die Uhr - kurz angebunden.

Dabei geht vieles verloren.
Erfahrungen werden nicht gemacht.
Warten wird nicht geübt.
Zuhören ist ätzend.
Bücher über Illustriertenmaß hinaus bleiben einer Randgruppe.
Geduld ist kein Schatz, sondern eine Anmaßung.
Echte, lange Nähe geht auf den Geist.
Doch Jammern hilft nicht.

Ich meine, wir in der Kirche müssten (homiletisch, poimenisch und liturgisch) so viel gelernt haben oder zumindest lernen können, dass im Sonntagsgottesdienst wie bei Kasualien Menschen hineingenommen sind in das längere Reden, Hören und Schweigen, weil es um sie selbst geht.

Denn - das ist meine Erfahrung - wenn es um dich selbst geht, dann hast du plötzlich Zeit, lässt ausreden, willst ausreden können, machst Pausen und lange Sätze. Und wenn dein Gegenüber kompetent ist, dann leitet sie oder er dich auch zu einer heilenden Genauigkeit.

Mir sind manche in unserer Kirche zu schnell auf den Medienzug aufgesprungen.

Mir wäre der Qualitätszug wichtiger gewesen. Die Nachbarlichkeit. Das Zeit-Lassen zum Schweigen. Das Beieinander-Bleiben.

Vielleicht sind wir neben den Konzerthäusern, Opern und Schauspielhäusern der letzte Ort, an dem man das Programm nicht wegklicken kann.

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