In dem ausgezeichneten Roman von Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend (München 2012) las ich folgenden Gedanken:
„Wenn sie aber schläft, setzt er sich gern neben ihr Bett und unternimmt einen weiteren Versuch zu ergründen, was ihm seit einiger Zeit als das große Rätsel der Menschheitsgeschichte erscheint: wie nämlich Vorgänge, Zustände oder Ereignisse, die allgemeiner Natur sind - zum Beispiel ein Krieg, oder lang andauernder Hunger, oder auch ein Beamtengehalt, das nicht an die rasende Inflation angepasst wird - in ein beliebiges privates Gesicht hineinschlüpfen können. Hier machen sie ein paar Haare grau, dort fressen sie ein paar liebliche Wangen auf, bis die Haut nur noch über kantige Kiefernknochen gespannt ist, die Abspaltung Ungarns führt vielleicht in dem Gesicht irgendeiner Frau, es kann auch seine eigene sein, zu zerbissenen Lippen. Von ganz weit außen nach ganz weit innen wird also fortwährend übersetzt, nur gibt es dabei für jeden einzelnen Menschen ein eigenes Vokabular, und deshalb hat wohl bisher niemand erkannt, dass es sich dabei überhaupt um eine Sprache handelt, und zwar um die einzige, die für die ganze Welt und alle Zeit Gültigkeit hat. Wenn einer nur ausreichend viele Gesichter studierte, könnte er sicher aus Falten, zuckenden Augenlidern oder glanzlos gewordenen Zähnen auf den Tod eines Kaisers Rückschlüsse ziehen, auf ungerechtfertigte Reparationszahlungen oder eine erstarkende Sozialdemokratie.“ (S. 88f)
Wir schreiben etwa das Jahr 1980 nach Jesu Hinrichtung.
Viel Zeit ist vergangen. Viele Lieder sind geschrieben, viele Predigten gehalten worden. Unzählig haben Menschen in Erinnerung an seinen Tod Abendmahl gefeiert. Der 31. Oktober 1517 ist schon viel näher und rückt manchen schon auf den Leib. Besondere Tage wollen gut erinnert sein.
Das war es, was mich an dem Romantext so gefesselt hat:
Erinnerungen müssten Spuren hinterlassen.
Und Jenny Erpenbeck (geb. 1967) setzt noch eins drauf: ... müssten zu sehen sein an den Haaren, den Gesichtern, den Zähnen, den Lippen, an der Haut, vielleicht auch am Gang.
Nun befrage ich mein Gesicht, meinen Gang, meine Haut, meine Zähne, meine Haare und meine Lippen, meine Zunge, meine Hände nach Spuren des Lebens und des Sterbens Jesu.
Will nicht gleich zu den Lachfalten wechseln, die sich den Seinen wohl auch erst lange nach Ostern in die Haut prägten.
„Christen erkennt man an ihren Lachfalten“, hatte ich vor 30 Jahren in einem meiner ersten Bücher großspurig geschrieben. Auch darüber sind die Jahre gegangen. Haben korrigiert, gelegentlich überlagert. Heute weiß ich die Falten nicht mehr zu unterscheiden. Waren es Lachfalten oder Sorgenfalten?
Zurück zur „Erinnerung“.
In unserem „Inneren“ müssten sich Spuren der Passion Jesu finden, nach außen drängen und unsere Haut prägen.
Hat dich Jesu Passion „geprägt“?
Hat sein Leiden auch in deinem Gesicht und an deinen Händen - nicht nur beim Poverello - Spuren hinterlassen?
Ist dein Gesicht gezeichnet von seiner Auferstehung? Vielleicht ein Leuchten, vielleicht ein Bleiben?
Oder machst du ein fröhliches Gesicht nur vor Publikum?
Klingt dein Lachen falsch, wenn es auf Nachfragen trifft?
Und sind deine Tränen echt?
Ich bin mir bei all den Fragen auch nach langem Pfarrer-dienst nicht sicher. Zu viele, die ich sehe und erlebe, „machen ein Gesicht“.
Aber „Erinnerung“ ist etwas ganz anderes, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Wenn sich das Gesicht in Entspannung löst, du dich selbst nicht mehr siehst, nicht einmal mehr ahnst, dann ist es echt.
Vermutlich sähen wir alle - entspannt - ganz anders aus.
Gerne möchte ich mich dafür entschuldigen, dass aus Versehen in der aktuellen Nummer zweimal die Wochensprüche behandelt werden, dafür nicht der Monatsspruch. Gelegentlich passieren solche Übermittlungsfehler, und wenn die Zeit dann knapp ist, lässt sich nichts mehr korrigieren.
Doch Sie als Leserin oder Leser haben mit diesen hervorragenden Auslegungen der Wochensprüche zusätzliche gute Gedanken für die Passionszeit.
Gerhard Engelsberger