In einem ganz besonders wesentlichen Buch, auf das ich nur durch den Titel gestoßen war, den Autor kannte ich nicht (Adonis, Wortgesang. Von der Dichtung zur Revolution, erschienen 2012 bei S. Fischer; „Adonis“ wurde als Ali Ahmad Said Esber in Syrien geboren, wechselte in den Libanon und lebt heute als Gelehrter in Paris), las ich großartige Gedanken, die mich schließlich zu dem Kapitel über Dialog und Toleranz führten, S. 244 ff. Ich hatte bis dahin einen klugen, in arabischer Literatur wie in westlichen Gedanken äußerst belesenen, sprachlich hervorragenden (Adonis ist eigentlich Lyriker) Autor, vieles über die arabische Gedankenwelt wie auch über den Koran kennengelernt, was ich bislang nicht kannte oder wusste.
Ich will - die EKD befindet sich im „Toleranz-Jahr“ - angesichts der Wichtigkeit ausführlich zitieren.
Ali Ahmad Said Esber schreibt arabisch. Er schreibt für seine heute im arabischen Sprachraum lebenden Leserinnen und Leser. Er schreibt nicht an uns im Westen. Kritisiert er unsere „Wissenschaftsgläubigkeit“, dann kritisiert er seine früheren Landsleute, die dieser westlichen „Mode“ verfallen sind. So meint er, gerichtet an seine arabischen Leser: „Das Bewusstsein muss nicht zur Moderne aufschließen, sondern die (technische, veräußerlichte) Moderne muss allererst zu Bewusstsein kommen, ihre geistigen Vorbedingungen kennenlernen.“ (S. 22) Er warnt sie vor der „rein äußerlichen Übernahme der Technik, einem Umgang mit der technisierten Lebenswelt, der seelenlos und kulturlos ist“. (S. 13)
Das sind Aussagen, die in einem anderen Themenbereich ernst genommen werden müssten. Zum angesprochenen Kapitel über Dialog und Toleranz, zwei Begriffe, die uns sehr leicht über die Lippen gehen.
„Das Ich ist eine kontinuierliche Reise zu sich selbst über den Weg des anderen.“ (S. 245) Wir könnten einem solchen Gedanken zustimmen. Überrascht sind wir von einer Ausgangsfrage, wie: „Stehen, wie man aus ihrer Geschichte ersehen kann, nicht gerade die Monotheismen für die Angst vor dem Menschen sowie vor dem Denken und dem Verstand?“ (S. 248)
Nicht, dass er dem Polytheismus das Wort rede. Aber eben einem anderen Verständnis von Dialog und Toleranz. Dies sei nun ausführlich dokumentiert.
„Der Begriff Toleranz ist heutzutage zum wichtigsten Schlüsselwort für den Aufbau jenes Dialogs geworden. Dieses Wort verweist in der allgemein vorherrschenden Bedeutung auf das Vorhandensein eines Irrenden und eines Rechtgeleiteten, der so tut, als würde er den Irrtum übersehen. Das bedeutet, derjenige, der sich im Recht wähnt, lässt gegenüber jemandem Toleranz walten, der unter ihm steht, oder der ihm zumindest nicht ebenbürtig ist, den er als einen Abweichler vom rechten Weg betrachtet.
In diesem Sinne verweist der Toleranzbegriff darauf, dass der Tolerierende, indem er toleriert, ganz selbstverständlich davon ausgeht, sein Wissen sei dem des Tolerierten überlegen und seine Wahrheit sei die einzig wahre, was vor allem für den Bereich der Religion gilt.
Im Zusammenhang mit Ethnien und Volksgruppen entwirft der Toleranzdiskurs das Bild von einer Mehrheit, die den Ton angibt gegenüber einer Minderheit, die dieses Kräfteverhältnis zu akzeptieren hat. Diese Minderheit genießt nicht dieselben bürgerlichen und kulturellen Rechte wie die Mehrheit. Mit anderen Worten, sie hat nicht Teil an den Rechten, die mit dem Prinzip des einen Staatsvolks innerhalb des einen Nationalstaats verbunden sind. Vielmehr verfügt sie über die Rechte, die man einer mehr oder weniger marginalisierten Schicht zubilligt. Dadurch kann sich die Mehrheit als Kern der Gesellschaft fühlen, als deren dominierendes Grundgerüst.
Die Minderheit dagegen wirkt wie deren Rand, wie ein Anhängsel davon. Die Beziehungen zwischen den Menschen beruhen hier nicht auf Gleichheit, sondern auf unterschiedlicher Wertigkeit, oder sie erscheinen bestenfalls als Beziehungen zwischen denen, die Recht haben, und denen, die fehlgehen.
So gesehen, offenbart das Konzept der Toleranz in einer Gesellschaft einen Mangel in der zivilgesellschaftlichen Struktur und einen Mangel im System des Wissens und der Ethik. Es dient nur der Verschleierung des Vorurteils, wonach die Menschen ungleich seien und aufgrund dessen unterschiedlich behandelt werden müssten, und welches zur Folge hat, dass einige ausgegrenzt oder an den Rand gedrängt werden. Ebenso verschleiert es die gängige Auffassung, die Wahrheit gehöre nicht allen, sondern sei eine Art Privatbesitz; sie sei keine gemeinsame Suche und die Menschheit demzufolge keine Gemeinschaft.
Natürlich kann die Toleranz unter bestimmten Umständen und in bestimmten Gesellschaften das Maß an Ausgrenzung, Unterdrückung und Mordlust mindern, aber sie ändert nichts am Grundsätzlichen. Sie führt nicht zur Befreiung, sondern vermittelt einem die Illusion, die Knechtschaft sei nicht mehr so erdrückend. Eine solche Toleranz ist nicht menschlich, sondern stellt lediglich einen Gnadenakt dar. Sie ist nur ein Rauschmittel, das durch seine permanente Anwendung zur Lähmung der Gesellschaft und ihrer Vitalität führt, den Fortschritt bremst und den schrittweisen Aufbau einer humanen Gesellschaft verlangsamt, in der Menschlichkeit und gleiche Rechte unterschiedslos gewährleistet sind. Das Gerede von Toleranz dient in einem solchen Fall nur dazu, die Unterschiede zwischen der Mehrheit und der Minderheit aufrechtzuerhalten, indem man sie mit der Schminke der Heuchelei kaschiert. Mit anderen Worten, es verfestigt nur das, was man eigentlich aufbrechen und überwinden müsste.
Toleranz ist also kurz gesagt für die Gleichheit wie ein Schleier, den es wegzureißen gilt.
Im Konzept der Toleranz steckt ein grundsätzlicher Fehler. Es kann also nicht darum gehen, unbeirrt zu versuchen, diesen Fehler auszubügeln. Vielmehr gilt es, ihn komplett zu beseitigen. Dies kann nur gelingen, indem sich eine Form von Demokratie etabliert, in der alle gleich sind. Denn Gleichheit, nicht Toleranz, ist der Grundpfeiler der Demokratie; nur in ihr können Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zur Geltung kommen. Und das Gesetz, welches die Rechte und Freiheiten schützt, ohne irgendwie geartete, von einer religiösen oder ethnischen Mehrheit diktierte Privilegien zu akzeptieren.
Die Toleranz scheint mir also vor allem in ihrer heutzutage praktizierten Form eine Tarnung zu sein, die zudem zur Schaffung einer Pseudo-Globalisierung beiträgt; pseudo deshalb, weil sie an der Ungleichheit und der Hierarchisierung der Menschen festhält, während es doch dem menschlichen Bedürfnis entspräche, auf die Durchsetzung von Gleichheit hinzuarbeiten. Gleichheit wiederum kann nur existieren, wenn sie fest in der Freiheit verwurzelt ist und ohne Wenn und Aber die Menschenrechte anerkennt. Sonst ist die Globalisierung nichts als eine andere Form von Hegemonialstreben.“
(S. 249-251)
Vernichtend offen und nah ist so ein Satz wie am Anfang - in Richtung des von sich selbst überzeugten Christentums wie in Richtung eines von sich selbst überzeugten Islams: „Derjenige, der sich im Recht wähnt, lässt gegenüber jemandem Toleranz walten, der unter ihm steht, oder der ihm zumindest nicht ebenbürtig ist.“
„In diesem Sinne verweist der Toleranzbegriff darauf, dass der Tolerierende, indem er toleriert, ganz selbstverständlich davon ausgeht, sein Wissen sei dem des Tolerierten überlegen, und seine Wahrheit sei die einzig wahre, was vor allem für den Bereich der Religion gilt.“
Provozierend für islamische Länder wie für den christlich geprägten „Westen“ ein Satz wie: „Denn Gleichheit, nicht Toleranz, ist der Grundpfeiler der Demokratie.“ (Hervorhebungen G. E.)
Für mich sind die vorstehenden Gedanken eine Provokation, die einen oberflächlichen Toleranzbegriff infrage stellt, nicht nur die islamische, auch unsere Dialogfähigkeit anzweifelt und nach einer sensibel-kritischen theologischen Antwort ruft. Bislang lese ich nur von einer Toleranz, die wir (im „christlichen Westen“) anbieten, gar gewähren.
Nach diesem Buch spüre ich, dass wir über Begriffe wie Dialog und Toleranz neu nachdenken müssen. Das wird nicht nur eine wesentliche theologische Herausforderung im „Toleranzjahr“ innerhalb der Reformationsdekade in der EKD, sondern in der Gestaltung des 21. Jahrhunderts sein. Ich hoffe, wir sind ihr adäquat gewachsen.
Zum Thema weise ich Sie in diesem Heft der PASTORALBLÄTTER insbesondere auf zwei Artikel hin. Einmal auf den Beitrag des Vertreters von Amnesty International, Stephan Brües, und seinen Themengottesdienst „,Ach, was bin ich tolerant!‘ - Toleranz predigen“.
Zum anderen auf den Beitrag von Prof. Eugen Engelsberger in der Rubrik „Gemeindeleitung im Gespräch“: „Für eine Kultur der Begegnung“.
Die PASTORALBLÄTTER betreffend, weise ich wieder einmal auf den - ausschließlich für Abonnentinnen und Abonnenten gedachten - einfachen Zugriff auf unsere Webseite pastoralblaetter.de hin, damit nicht nur zur Möglichkeit, das ganze jeweils aktuelle Heft bzw. einzelne Beiträge (in Word) herunterzuladen, sondern auch das wachsende Archiv zu nutzen.
Weiter lade ich in eigener Sache ein, mir eine Mail und damit Ihre Mailanschrift zu schicken, damit ich Sie - falls notwendig - darüber in Sachen der PASTORALBLÄTTER kurzfristig erreichen kann.