Gib dich zu erkennen

Bundespräsident Joachim Gauck schreibt in „Freiheit. Ein Plädoyer“ (München 2012, S. 47f):

„Manche denken, wenn ich keine Überzeugung habe, dann kann ich auch keinen stören. Sogar manche Politiker definieren in dieser Weise ,liberal‘. Aber wir wissen, dass wir besonders dann glaubwürdig sind, wenn wir uns zu erkennen geben. Und wir wissen, dass eher diejenigen, die ihres eigenen Glaubens und ihrer eigenen Werte sicher sind, die Werte von Fremden zu würdigen bereit sind, weil sie das Fremde weniger fürchten und in den anderen Menschenkinder erkennen, die zusammen mit uns überleben und in Würde leben wollen.“

Du läufst durch deinen Alltag, als ob du durch eine Kamera deine Mitmenschen betrachtest. Dieser Ausschnitt macht es dir leichter, dich herauszuhalten aus Konflikten. Das Recht des anderen ist seine Sache. Die Wohlfahrt des anderen ist seine Sache. Das Elend des anderen ist seine Sache. Du hast genug an deinem.

Und dein Ausschnitt wird immer kleiner.

Die Bildschirme zu Hause werden immer größer, immer breiter. Und die Ausschnitte unserer Herzen immer kleiner. Immer enger.

Unser erster Bürger Joachim Gauck sagt: „… wir wissen, dass wir besonders dann glaubwürdig sind, wenn wir uns zu erkennen geben.“

Sich zu erkennen geben, das ist in Wahrheit das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Das ist unbegrenzte Nähe. Joachim Gauck nennt es in seinem Plädoyer „Gebundenheit“ oder „Bezogenheit“.

„Gib dich zu erkennen“, sagt in bester biblischer Tradition der deutsche Bundespräsident. Meint weiß Gott nicht, wir sollten mit Soldaten in Syrien oder mit Bomben in Mali intervenieren. (Das sind die aktuellen Konflikte, während ich das Editorial schreibe.) Meint eher, wir sollten neben allem Verhandlungsgeschick unser Gesicht zeigen. Wir sind - so und so - beteiligt.

Unsere Zeit braucht mehr und mehr Menschen, denen die Gleichgültigkeit ein Gräuel ist. Unsere Zeit braucht Menschen, die nicht wegsehen. Menschen, die sich einmischen. Menschen, die bei den Menschen bleiben.

Gleichgültigkeit dem Elend gegenüber ist schlimm.

Heute beobachte ich mehr und mehr auch eine andere Gleichgültigkeit, die die Generation meiner Eltern und Großeltern so noch nicht kannte: die Gleichgültigkeit gegenüber dem Wunder.

„Gib dich zu erkennen“, mit dem, was dir wichtig ist. Mit wem, was du als falsch erkannt, vielleicht auch bereut hast. Mit dem, was dich staunen lässt, und dem, was du aus Erfahrung gelernt hast. Du bist kein Rechthaber, wenn du dich zu erkennen gibst. Du bist beteiligt. Und der andere ist nicht mehr allein.

Für Gauck sind drei Stichworte maßgebend:

Freiheit, Verantwortung, Toleranz.
Einmischen, Partei ergreifen, lieben, staunen und danken.
Dann sind wir den anderen kein Rätsel, sondern ein Halt.
Das gilt auch für uns in der Kirche.

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