Steinwurf in fließendes Gewässer

Der folgende Gedanke aus Elif Schafas, Die vierzig Geheimnisse der Liebe, Zürich/Berlin 2013, S. 7, hat mich zum Nachdenken gebracht:

„Bewirkst du etwas, wenn du einen Stein in ein fließendes Gewässer wirfst? Es ist schwer zu erkennen. Dort, wo er die Oberfläche durchbricht, beginnt sich das Wasser zu kräuseln; dann ertönt ein platschendes Geräusch, das gedämpft wird vom Rauschen des Flusses. Mehr nicht.
Doch wirf einen Stein in einen See. Was das bewirkt, ist nicht nur gut zu sehen, es hält auch sehr viel länger an. Der Stein durchbricht das stille Wasser. Dort, wo er auftrifft, bildet sich ein Kreis, aus dem ein weiterer entsteht und dann noch einer. Nach einem einzigen Steinwurf breiten sich binnen Kurzem die Wellen in Ringen so aus, dass sie überall auf dem Spiegel des Sees zu spüren sind. Erst wenn sie aufs Ufer treffen, machen sie Halt und vergehen.
Fällt ein Stein in einen Fluss, dann behandelt der Fluss ihn wie jede andere Erschütterung in seinem ohnehin ungestümen Lauf. Nichts von Bedeutung, nichts, dessen man nicht Herr werden würde.
Fällt der Stein jedoch in einen See, dann wird der See nie mehr so sein wie zuvor.“

Wie liest das einer, der angetreten ist, damit der Fluss fließe, damit die Kirche sich immer wieder neu reformiere und damit Menschen sich von den Ufern mitspülen lassen können ohne Angst, zu versinken?

Nun sitze ich selbst gelegentlich vor dem vierten oder fünften großen, selbst angelegten Gartenteich.

Den Fluss der Kirche spüre ich eher selten. Ich bin zu oft enttäuscht worden von anderen und von mir selbst. Hörte zu oft, ruhiges Gewässer sei besser, und spürte selbst Anwandlungen von Teichbau, nicht von Flussgestaltung.

Wie war es noch abenteuerlich, mit den Kindern oben auf über 2.000 m auf einem Bisse (Bewässerungsgraben) im Wallis die selbstgebastelten Boote ins Rennen zu schicken. Die Kinder schickten sie los, jagten mit mir ihnen nach. Ich fing die ersten und letzten Amateurboote nach gut einem Kilometer an einem kleinen Wehr auf. Mit den Booten die Freude und die Enttäuschung. Auch die Erklärungen über Hindernisse. Auch den einen oder anderen Vorwurf, da sei geschummelt worden.

Ob der Fluss danach noch so war wie zuvor? Ob der Teich, in den ich zweimal im Jahr stieg und der mir fast bis zum Hals reichte, noch so war wie zuvor? Ich hatte keine Steine geworfen. Ich hatte nur abgestorbene und Stängel Blätter entfernt.

Und wie ist das mit der Kirche, in die ich immer noch gerne „steige“?

Manchmal auf die unterschiedlichsten Kanzeln, selten zur Stille, eher zu einem Vortrag. Gleicht die Kirche Ihnen eher dem Fluss oder dem See? Oder mal diesem, mal jenem Bild? Oder gleicht die Kirche dem See mit Zufluss und Abfluss - von denen man aber mitten auf dem See gar nichts bemerkt?

Spüren wir in der Passions- und Osterzeit oder in der Adventszeit eher den „Fluss“ des Kirchenjahres, während in der langen Trinitatiszeit das Gewässer zu stehen scheint?

Und Sie, liebe Abonnentinnen und Abonnenten der PASTORALBLÄTTER. Hat sich die Kirche verändert, weil Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in sie „hineingestiegen“ sind? Sind Sie in einen See „(ab)getaucht“ oder haben Sie auf seine Mitte Steine geworfen? Oder sind Sie dem Fluss gefolgt, immer neu, weg über Stromschnellen bis hin zu kleinen Wasserfällen oder zu einem Wehr?

Von Elif Schafas habe ich gelernt, dass ich am Teich, am See gerne die Erinnerung an mich selbst bewahre. Meinen unverwechselbaren Kreis. Am Fluss oder Bach geht das nicht.

Vielleicht spiegelt das Ganze auch wider, was unserem Beruf (und anderen Berufen) eigen ist:

Wir dürfen keine Seen bauen.
Wir spielen am Fluss.
Und dürfen mit dem Fluss wandern.

Einen gesegneten Sommer, und wo es geht - die notwendige erholsame Freizeit Ihnen allen.

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