Der Schriftleiter hatte in den PASTORALBLÄTTERN 5/2013 einen „Literaturgottesdienst“ von Pfarrer Redmer Studemund veröffentlicht, auf die eigene langjährige Reihe „literaturgottesdienste.de“ hingewiesen und zu einem Erfahrungsaustausch einladen. Pfarrer Studemund war es wichtig, zu erwähnen, dass auch in seinem Gottesdienst aus dem Buch gelesen wurde. Das war aus dem Manuskript so nicht ersichtlich.
30. Januar 2011 „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren
6. Februar 2011 „Die italienischen Schuhe“ von Henning Mankell
13. Februar 2011 „Effi Briest“ von Theodor Fontane
20. Februar 2011 „Der König David-Bericht“ von Stefan Heym
27. Februar 2011 „Atemschaukel“ von Herta Müller
22. Januar 2012 „Oskar und die Dame in Rosa“ von Eric-Emmanuel Schmitt.
29. Januar 2012 „Gott fährt Fahrrad oder Die wunderliche Welt meines Vaters“ von Maarten ‘t Hart
5. Februar 2012 „Der Koch“ des Schweizer Schriftstellers Martin Suter.
12. Februar 2012 „Die Einsamkeit der Primzahlen“
19. Februar 2012 „Ansichten eines Clowns“ von Heinrich Böll.
20. Januar 2013 „Nemesis“ von Philipp Roth
27. Januar 2013 „Hiob“ von Joseph Roth
3. Februar 2013 „Der Klang der Zeit“ von Richard Powers
10. Februar 2013 „Kleiner König Kalle Wirsch“ von Tilde Michels
Die Gottesdienste beginnen jeweils um 11 Uhr 15 und werden musikalisch mit Orgel, Gesang oder weiteren Instrumentalistinnen/Instrumentalisten begleitet. Die Literaturgottesdienste halten sich im Groben an die würt-tembergische Form des Gottesdienstes, es ist aber gewollt und gehört zum Konzept der Literaturgottesdienste, innerhalb dieser Form die Liturgie frei zu gestalten und sie mit dem ausgewählten Buch ins Gespräch zu bringen. Lieder, Gebete und Schriftlesungstexte korrespondieren ebenfalls mit dem Buch, sodass auch einzelne Stellen des ausgewählten Buches die Funktion von Schriftlesung oder sogar von einem Gebet übernehmen können.
Die Literaturgottesdienste haben eine Dauer von ca. 80 Minuten. Sie werden erlebt wie „Weihnachten“. Die Kirche ist voll, man muss eine halbe Stunde vorher kommen, um einen guten Platz zu haben. Das Singen in einer vollen Kirche ist eine Freude. Auf dem Wochenmarkt wird über die Gottesdienste gesprochen und ausgetauscht, welches Buch man schon wie weit gelesen hat.
Die Texte aus den von den Predigerinnen/Predigern ausgewählten Büchern werden von SchauspielerInnen des „Theater Die Tonne“ vorgetragen. Dialoge sprechen sie in verteilten Rollen. Sie wählen verschiedene Orte im Kirchenraum zum Vortragen aus und nützen die Akustik, ohne auf Mikrofone angewiesen zu sein.
Indem sich Predigerinnen und Prediger mit einem Roman, einer Erzählung auseinandersetzen, geben sie zu erkennen, dass sie wie alle anderen Leserinnen und Leser teilhaben an der literarischen Welt und deren Themen. Es besteht ein Interesse daran, sich über das Gelesene auszutauschen und zu fragen, wo es Bezüge zu der biblischen Tradition gibt, die selbst Literatur ist und in vielfältiger Weise Eingang in die Literatur fand, dort verfremdet, vereinnahmt, weitergedacht oder auch kritisch hinterfragt wurde. Die Sprachgewandtheit, Ausdrucksstärke, Bildervielfalt von Autoren und Autorinnen helfen den Predigerinnen und Predigern, das Evangelium so zu kommunizieren, dass die (vermeintlich) vertrauten Worte der Bibel, ihre Botschaft, neu und anders klingen. Gnade, Hoffnung, Sünde, Glaube, Vergeblichkeit, Liebe, um nur ein paar Beispiele zu nennen, erscheinen in einem Welt- und Lebenszusammenhang, der gedeutet werden will.
Es besteht ein Bedürfnis zu hören, wie man Bücher wie „Die Atemschaukel“, „Nemesis“, „Gott fährt Fahrrad“ und „Ronja Räubertochter“ lesen und verstehen kann. Was sagt „die Kirche“ zu den Romanen, die auf Bestsellerlisten erscheinen und Sprachrohr für Themen der Gewalt, Freiheit, der Schuld, Krankheit, Tod, Vergebung, Älterwerden, Lebensfreude und noch vieles mehr sind?
Die Literaturgottesdienste in Reutlingen schreiben den Predigerinnen und Predigern, die alle aus der Gesamtkirchengemeinde Reutlingen mit ca. 25.000 Mitgliedern kommen, nicht vor, ob sie im Widerspruch oder im Gespräch mit der gewählten Literatur explizit oder implizit ein biblisches Wort oder einen Perikopentext predigen. Meist wird das Werk und der Autor/die Autorin kurz vorgestellt. Einige unterbrechen ihre Predigt durch Textpassagen, die von den SchauspielerInnen vorgetragen werden, und paraphrasieren das Gehörte, setzen es in Bezug zur Lebenswelt der Gottesdienstteilnehmenden, zeichnen die existenziellen Fragestellungen auf und führen sie auf Erfahrungen mit Gott, der Botschaft Jesu weiter aus. Anderen genügt ein exemplarischer Satz, eine Szene aus dem gesamten Buch, um ein Grundmotiv in verschiedenen Variationen durchzuführen.
BildungsbürgerInnen lassen sich durch diese Form von Gottesdiensten ansprechen. Sie genießen Gottesdienste als ein Gesamtkunstwerk. So bringt die Literaturgottesdienstreihe die Menschen zum Lesen und die Literaturbegeisterten zum Gottesdienst. Selbst Kinder fühlen sich in einem solchen Gottesdienst wohl und angesprochen. So die Erfahrung beim Gottesdienst über das Buch „Kleiner König Kalle Wirsch“, einem Kinderbuch, das aber generationenübergreifend betrachtet und ausgelegt werden kann.
Seit geraumer Zeit setzt sich die Homiletik mit Theopoesie, Theopoetik auseinander.
Zwei Zitate möchte ich anführen aus einem Vortrag von Henning Schroer „Die Kunst, Lyrik und Liturgie in kirchlichen Arbeitsfeldern lebendig werden zu lassen“ vom 13.8.1998 im Anhang des Buches: „Leise Bekenntnisse“ von Vera Sabine Winkler. Sie mögen stellvertretend ausdrücken, was in Literaturgottesdiensten sowohl in der Predigt als auch in der Liturgie meines Erachtens geschieht:
„Die Kunst der menschlichen Sprache und die Gunst des göttlichen Wortes sind nahe beieinander.“ (S. 423)
Für die Sprachfähigkeit einer Predigerin und eines Predigers sind Literaturgottesdienste Verknüpfungen der Predigtkunst mit der Schriftstellerei. Beide haben eine Verheißung, die Gott seinem Wort in menschlicher Gestalt mitgibt: „Es wird nicht leer zu mir zurückkommen.“ Vielleicht muss er manchmal schmunzeln, den Kopf schütteln, erstaunt sein. Aber das Wort entzieht er uns nicht.
„Das Christentum setzt ja - wie alle großen Religionen - voraus, dass alle Menschen Dichter sind, nämlich beten können.“ (Zitat Dorothee Sölle a.?a.?O., S. 425)
Gottesdienste samt Predigt mit Schauspielerinnen und Schauspielern zu gestalten, das bringt zwei Kulturen zusammen, die lange Zeit gegeneinander konkurrierten. Theaterleute hatten in der Kirche kein hohes Ansehen. Im Pietismus war der Theaterbesuch verpönt. Die Kirche scheint Theaterleuten spießig, verkrustet und alt, gut geeignet für Stereotypen und Parodien.
Gottesdienste zu inszenieren, das Sprechen zu üben, bewusst zu gehen, zu stehen, zu schweigen, zu wissen, wie man Hände und Füße bewegt oder stille hält, das ist heute in der Vikarsausbildung angekommen, Teil der Fortbildung. In den Literaturgottesdiensten wird in der Kooperation damit Ernst gemacht und ein spielerischer Umgang gepflegt und mit großem Gewinn für beide Seiten praktiziert. Predigerinnen und Prediger setzen sich mit Profis der Sprache, der Gestik und Mimik, der Dramaturgie auseinander. Schauspielerinnen und Schauspieler sind erstaunt, wie anders Texte in einem Kirchenraum wirken können, welche Resonanz sie erfahren im Kontext einer gottesdienstlichen Feier. Es gibt eine Dichte, eine emotionale Tiefe, ein gespanntes Hören, eine persönliche Betroffenheit, die auch vor Profis im Gottesdienst nicht Halt macht.