Demut ist in gleichem Grad der Gegensatz zur Selbstdemütigung wie zur Selbstüberhebung. Demut heißt: sich nicht vergleichen.
(Dag Hammarskjöld,1905-1961)
Er sitzt mir gegenüber. Etwa mein Alter.
Wir haben uns auf eine längere Fahrt eingestellt.
Er sieht, was ich lese, und fragt: Sind Sie Theologe?
Wir kommen ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass auch er evangelisch ist. Er kennt sogar noch seinen Konfirmandenspruch.
Aber bei ihm hat das einen besonderen Grund. Der Konfirmandenspruch hat ihn geärgert, seit er denken kann. Sagt er. Früher hat den der Pfarrer ausgesucht. Man hat dann schon gespürt, was er sich dabei gedacht hat.
Er hat mich auf die Folter gespannt.
Ich will wissen, wie der Spruch heißt.
„Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“, sagt er und schaut mich an: „Na?“
„Demut. Wie soll das gehen?“, fragt er.
„Ich weiß es auch nicht so recht.“
„Das kriegt doch keiner hin.“
„Na ja, ein paar schon.“
„Sie machen sich doch bestimmt auch nicht kleiner, als Sie sind!“, sagt er zu mir. „Ob das gemeint ist?“
Ja, was ist eigentlich gemeint, wenn die Bibel von „Demut“ redet? Und das macht sie ja häufig.
„Haltet fest an der Demut.“ Das klingt ziemlich unpopulär.
Demut erinnert an „sich demütigen“. Oder „gedemütigt werden“.
Wenn ein Lehrer einen Schüler bloßstellt.
Wenn ein Vater sein Kind schlägt.
Wenn der stärkere Boxer den Unterlegenen durch den Ring treibt.
Wenn der Fußballklub 5:0 oder 6:0 verliert, dann spricht man von einer Demütigung. Wie jüngst beim Halbfinale in Rio, als die deutsche Fußballnationalmannschaft gegen die aus Brasilien 7:1 gewann.
Das wird keiner freiwillig tun. Keiner wird sich freiwillig demütigen lassen. Keiner will bloßgestellt werden. Niemand will verlieren.
Wir erziehen unsere Kinder zu einem gesunden Selbstbewusstsein. Wir richten unser Maß aus am Erfolg.
Jesus, so erzählen es die Evangelien, war demütig.
Der germanische Begriff „diemuot“ bezeichnete die Gesinnung von Gefolgsleuten gegenüber ihrem Lehensherrn. Sie mussten vor ihm niederknien, auf Befehle warten und diese dann widerspruchslos ausführen.
Eigentlich weist der Begriff ja auf Gott hin. Denn De-Mut kommt vom Lateinischen deo servus - Gottes Diener - „Gottes mutiger Diener“.
Aus dieser weisen „Lebenshaltung Demut“ heraus zu leben, das braucht Mut, viel Mut. Demütige haben den Mut, zu dienen, sich ein- oder sogar unterzuordnen. So wie Mutter Teresa in ihrem Dienst für die Sterbenden auf den Gassen der Slums von Kalkutta, wie Willy Brandt bei seinem Kniefall im Warschauer Getto oder wie der 73-jährige Mann, der seine an der Alzheimer-Krankheit leidende Frau in der gewohnten Umgebung pflegt.
Er sagt ganz schlicht, sie hätten zusammen so viele gute Jahre gehabt, da sei es doch selbstverständlich, dass er seine Frau nun begleite, solange er dazu die Kraft habe. Mut zum Dienen.
Jesus hat Demut, Mut zum Dienen, vorgelebt und seinen Jüngern die Füße gewaschen. Gott hat sich selbst gedemütigt, wird klein, gering, niedrig, bedürftig und stirbt an einem Kreuz. Demut, Mut zum Dienen kommt aus dem tiefen Respekt vor dem anderen und ist Mut zur Menschlichkeit und damit Mut, menschliche Grenzen einzugestehen.
Ich kann im Grunde „Demut“ gleichsetzen mit „Hochachtung“.
Ich habe Hochachtung vor deiner Arbeit. Ich bin nicht überheblich mit meiner. Ich habe Hochachtung vor deiner Kultur. Ich mache dich nicht runter, nur weil du anders bist. Ich habe Hochachtung vor deiner Religion. Ich werde die Schriften, die dir heilig sind, weder mit Füßen treten noch verbrennen. Ich habe Hochachtung vor jeder Pflanze, vor jedem Tier, vor Wind und Wasser - ich habe Hochachtung vor allem, was lebt.
„Ich bin Leben, das Leben will, inmitten von Leben, das Leben will“, sagt Albert Schweitzer und meint, die Ehrfurcht sei die wesentliche menschliche Tugend.
Ich habe Hochachtung vor Gott. Ihm verdanke ich mein Leben. Ihm verdanke ich das Leben derer, die mir lieb sind. Die Schönheit, den Glanz der Schöpfung im Kleinsten und Größten.
Demut kann ich übersetzen mit Hochachtung, die mich in die Pflicht nimmt. Die will, dass ich mich einbringe, mutig einbringe. Und dabei auf dem Boden bleibe. Ich soll nicht kriechen und kuschen. Ich soll nur nicht abheben.
Ich erkenne, dass ich von der Erde stamme, dass ich Mensch bin mit allem, was zu diesem Körper gehört. Dass ich vergänglich bin. Demütig sein heißt dann schlicht und einfach „ehrlich sein“, die Wahrheit über mich selbst wissen; mich selbst und meine Grenzen kennen. Das ist das Ende allen Hochmuts, die Voraussetzung jeder Hochachtung, und führt mich direkt zu Gott. Ihm verdanke ich, was ich bin und was ich kann.
Der Demütige kennt sein Maß. Und deshalb ist der Demütige weise.
Nehmen Sie als Messlatte den 8. Psalm: „Was ist der Mensch, dass du, Gott, seiner gedenkst? Und was ist des Menschen Kind, dass du dich um es kümmerst? Du hast den Menschen wenig niedriger gemacht als Gott.“
Wenig niedriger. Der Mensch hat ein Maß. Das bewahrt ihn vor dem Hochmut, an dem er selbst zerbricht und mit dem er andere zerstört. Und nicht nur das, Demut hält die Gemeinde zusammen in ehrlichem, mutigem Dienst an Gott und dem Nächsten.
Aber dann geht die Bibel weiter. Sie erzählt, wie aus Demut Sorglosigkeit wird. „Sorgt euch nicht! Gott sorgt für euch!“
Wie wird aus Demut Sorglosigkeit?
Nun, sei ehrlich zu dir selbst. Übernimm dich nicht. Lass es gut sein.
Überschätze deine Kräfte nicht. Mach dich nicht größer und nicht kleiner.
Vor wem denn?
Vor Gott, der dich geschaffen hat, der dich begleitet, der - wie es Jesus sagt - jedes Haar auf deinem Kopf kennt?
Was soll das, du musst doch vor Gott nichts beweisen. Achte Gott so hoch, dass du ihm dein ganzes Leben anvertraust.
Dazu lädt Jesus ein, dazu lädt der Apostel Paulus ein, dazu hat Martin Luther eingeladen.
Mach dich nicht abhängig von dem, was eh nicht bleibt.
Deine Sorgen ändern nichts am Lauf der Dinge.
Im Gegenteil, deine Sorgen stellen sich zwischen dich und Gott, zwischen dich und deine Frau, zwischen dich und deine Kinder.
Zu wenig oder zu viel der Sorge heißt, dass du dein Maß noch nicht hast.
Du musst die Welt nicht heilen, aber du kannst den einen Menschen lieben.
Du musst nicht zig Millionen Hungernde sättigen, aber du kannst dich schützend vor einen Menschen stellen.
Du kannst nicht allen Arbeit geben, aber auf Schwarzarbeit verzichten.
Der 77-jährige Mann wird seine demente Frau nicht ewig pflegen können. Seine Demut hat Grenzen wie seine Kraft. Aber bis dahin wird er mutig tun, was er kann. Mehr nicht.
Und auch nicht ewig. Für das, was bleibt, ist Gott zuständig.
Legt am Kreuz ab, was euch kränkt.
Nehmt vom Altar mit, was euch stärkt.
Hört aus der Bibel, was euch verheißen ist.
Erinnert euch an eure Taufe, deren Bund gilt.
Versucht, der Welt ein wenig von ihrer Schwere zu nehmen, von ihrer Last.
Denn Gott sorgt für euch.
Es gibt einen weisen Text von dem amerikanischen Schriftsteller Max Ehrman. Er ist 1872 geboren. Vielleicht kennen Sie die Worte:
„Geh deinen Weg ohne Eile und Hast, und suche den Frieden in dir selbst zu finden. Und wenn es möglich ist, versuche den anderen zu verstehen. Sage ihm die Wahrheit, ruhig und besonnen. Und höre ihm zu, auch wenn er gleichgültig und unwissend ist, denn auch er hat seine Geschichte. Egal, ob er noch jung und aggressiv, oder ob er alt und müde ist. Wenn du dich mit all den anderen vergleichst, wirst du feststellen: Du lebst unter Menschen, die entweder größer oder kleiner, besser oder schlechter sind als du selbst.
Sei stolz auf deinen Erfolg und denke auch an deine Karriere, aber bleibe bescheiden, denn das Schicksal kann sich jederzeit wenden. Sei vorsichtig in deinen Geschäften, denn die Welt ist voller List und Tücke. Aber lass dich trotz allem nicht von deinem Weg ablenken.
Viele Leute reden von hohen Idealen, und überall wird Heldenmut angepriesen. Bleibe du selber und heuchle nicht Mitgefühl. Steh der Liebe nicht zynisch gegenüber, denn sie ist das Einzige, was wahr und unvergänglich ist.
Sei dankbar für jedes Jahr, das du erleben darfst, auch wenn mit jedem Tag ein Stück deiner Jugend entschwindet. Bereite dich auf den Augenblick vor, in dem etwas Unvorhergesehenes in dein Leben tritt. Aber zerstöre dich selbst nicht aus Angst vor der Einsamkeit. Sei immer so, dass du vor dir selbst bestehen kannst.
Du bist ein Kind des Universums. Du hast ein Recht, auf der Erde zu sein, nicht weniger als die Blume, die blüht, und wie ein Stern in der Nacht. Doch auf dieser Welt lebst du nicht allein. hast du schon einmal darüber nachgedacht?
Darum schließe Frieden mit Gott, wo immer du ihm auch begegnest, ganz gleich, was das Leben dir auch an Schwierigkeiten auferlegt. Lass nicht durch Lug und Trug deine Ideale zerbrechen. Die Welt ist immer noch schön. Versuche, auf ihr zu leben und glücklich zu werden.“
Gute Worte. Aber dann holt mich Wichtiges ein: Demut heißt sich nicht vergleichen. Meinte der auf ungeklärte Weise abgestürzte Dag Hammarskjöld. Noch vergleiche ich mich.