Vom Wollen und Dürfen, vom Können und Bleiben

Einer ist geblieben, auch wenn er anders gekonnt hätte.
So erzählen es zumindest die Evangelien.
Einige sind gegangen. Haben alles, was Recht ist, liegen lassen. Sie hätten nicht gedurft. Geblieben sind auch sie nicht. Sie mussten zurück. Zurück zur Arbeit. Zurück zum Broterwerb.

Jesus und die Hirten.
Die Hirten und Jesus.

Die Bibel ist ein langes, großartiges Zeugnis vom Wollen und Dürfen, vom Können und Bleiben.

Die Bibel ist ein „Zöger-Buch“. Die Bibel „hat nicht“, „weiß nicht“. Die Bibel wächst mit dir. Zaudert mit dir.
Kann mit dir. Und scheitert mit dir. Wünscht mit dir. Sucht mir dir. Die Bibel ist - besonders im „alten“ Testament - sehr lang. Hat Zeit. Braucht Zeit. Sie hat einen langen Atem, ein tiefes Gespür und eine erstaunliche Weite. All das darf ihr niemand nehmen. Er/sie würde die tiefsten Gefühle verletzen.
Die Bibel ist ein „Lebensbuch“. Nie hat das Leben auf geraden Linien geschrieben. Nie auch im Perfekt. Da kam immer noch etwas nach.

Wir Pfarrerinnen und Pfarrer haben es im „Hebraicum“ gelernt: Die hebräische Sprache kennt nicht unsere „Zeiten“. Sie kennt eher so etwas wie „Wirklichkeit“ und „Möglichkeit“.
„Ich lebe in Berlin“, das wäre die Wirklichkeit.
„Mecht ich doch leben in Frieden“, das wäre die Möglichkeit.
Und sie steht offen. So erst wird die Zeit ein Fluss ohne Ufer, ein Weg ohne Grenzen, eine „himmlische Weite“.

Die Bibel ist ein „Zöger-Buch“, hält gelegentlich den Atem an, spielt mit Wirklichkeit und Möglichkeit, kennt Insassen hier und Beteiligte dort. Geht nie 1 und 1 auf. Will das auch gar nicht. Der alte Titel - ich habe das Buch des 1980 verstorbenen Werner Keller noch - „Und die Bibel hat doch recht“ - hatte nicht recht. Die Bibel ist kein Beweisbuch, kein Schriftsatz. Kein Mensch darf/soll/kann oder muss die Bibel verifizieren oder falsifizieren.
Die, die die Bibel schrieben, drückten das im Deutschen nicht „Ausdrückbare“ aus, eben die gnädige Weite zwischen Spachtel und Federstrich. Oder eben das unübersetzbare „mecht“. „Mecht ihm Gott verzeihen“ oder - was noch schwieriger wäre - „mecht ihn Gott verstehen“!

Und - so fragen die Menschen, die uns zu Advent und Weihnachten in Gottesdiensten besuchen: „Wie ist das mit der Geburt des Erlösers? Wie ist das mit der Jungfrau und dem Stall von Bethlehem?“
Auch wenn ich mich weit aus dem wissenschaftlichen Fenster lehne - wer lehnt sich bei der „Auslegung“ der Bibel nicht weit hinaus -, ich „mecht“.
Dann falten sich meine Hände.
Dann sinkt mein Kopf ins Kissen.
Dann kommt die eine oder andere Träne.
Ein Schuft, wer dabei Böses denkt oder mich auslacht.

Die Bibel ist ein langes, großartiges Zeugnis vom Wollen und Dürfen, vom Können und Bleiben. Vom Wünschen und vom Wandern.

Weite Wege sind Maria und Joseph gegangen.
Weite Wege dürfen - wenn es uns geschenkt ist - auch wir gehen.

Die Hirten gingen kurze Wege. Wenn ich an meine geografischen Kenntnisse von Bethlehem denke - „sie kamen eilends“. Und dann „breiteten sie das Wort aus“.
Mehr ist uns nicht aufgetragen.
Wir sollen uns sputen, wenn Gott ruft.
Wir sollen erzählen, wenn wir überzeugt sind.
Wir sollen leben aus seinem Leben.
Wir sollen uns „das Wort auf der Zunge zergehen lassen“, wenn es ans „Eingemachte“ geht.
Gelegentlich sollten wir den Mund halten.
Nichts schlimmer als ein Geschwätz ins Mikrofon, wo Gott selbst zögert.

Nun kann man an Heiligabend nicht den Mund halten. Das ist gut so. Der Predigtauftrag ist oft „verführerisch“. Er sollte an Heiligabend - nichts anders bei Konfirmationen, an Erntedank oder auf dem Friedhof - verführen.

Was bleibt?
Sagen Sie den Menschen, die gekommen sind, was Sie selbst ehrlich bewegt. Warum Sie selbst gekommen sind. Warum Sie selbst auf der Kanzel stehen. Was Ihnen nicht nur durch den Kopf geht; was Sie „treibt“. Und dann bleibt das „mecht“, das jedes Weihnachtslied umfasst und jeden Neujahrswunsch: „Mecht Gott dir gnädig sein.“

Ich las bei Monika Maron, Flugasche, Frankfurt 1981, S. 29ff:
„Und am Abend pünktlich um acht wird sie die Haustür zuschließen. Nach acht sind wir nicht mehr zu sprechen. Da sperren wir uns ein in unsere Höhlen oder sperren uns aus - aus der Menschengesellschaft. Da hilft kein Klopfen, lieber Freund, und auch kein Rufen, die Autos überschreist du nicht. Geh nach Hause.
Ordnung muss sein. …
Eines Tages gründe ich mein Haus, ein großes Mietshaus, in dem nur Leute wohnen, die miteinander befreundet sind. Nicht so eine künstliche Hausgemeinschaft, die immer nur Zäunchen baut und in der jeder Mühe hat, sich seine Nachbarn schönzugucken. Acht oder neun oder zehn Parteien, jeder hat seine eigene Wohnung, man kann allein sein, muss aber nicht. An den Türen hängen Schilder, auf der einen Seite rot, auf der anderen grün. Bei Grün darf man klingeln, Rot heißt: nicht stören. Zu Weihnachten und zu Geburtstagen kocht jede Wohnung einen Gang. Der Boden wird ein Spielzimmer für die Kinder. Niemand muss von einer Dienstreise in eine kalte Wohnung kommen. Und wenn einer ein Buch schreiben will, kann er aufhören zu arbeiten, und die anderen bezahlen ihm einen einjährigen Arbeitsurlaub. Wenn jeder fünfzig Mark gibt, hat er ein Mordsstipendium. Dafür hütet er manchmal die Kinder. Und wenn sein Buch fertig ist, kann er vorn reinschreiben, dass er uns allen dankt. Wenn keiner es drucken will, ist es auch nicht schlimm, dann liest er es den andern vor.
Heute hätte ich mein Schild auf die grüne Seite gedreht.“

Ich wünschte, das könnten wir mehr und mehr lernen, die Schilder vor unseren Türen und Kreisen auf Grün zu stellen. Und dem „mecht“ die Bibel ein ehrliches Zuhause schenken. Und bei allem „wider“ gelegentlich die Hände in den Schoß legen. Sie sind dort gut aufgehoben. Echt.
Den Leserinnen und Lesern der PASTORALBLÄTTER wünsche ich von Herzen gesegnete Weihnachten und ein neues Jahr 2015 in Frieden, mit Kreativität, mit tragfähigen Freundschaften und einem treuen Glauben. Schön, dass Sie uns dabei wieder Ihr Vertrauen schenken.

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