Es ist - für die jungen Kolleginnen und Kollegen - ein "altes Buch". Mir war es ein Wegweiser in meinem ersten Pfarrer-Jahrzehnt. Ich habe das Buch wieder herausgeholt, weil ich selbst an einem Buch über "Zärtlichkeit" sitze. Ich meine - unter Theologinnen und Theologen kann ich das so ungeschützt schreiben -, das Paradigma der "Aufklärung" sei aus den verschiedensten Gründen an ein Ende gekommen. Ich suche ein neues Paradigma, und nenne es ungeschützt "Paradigma der Zärtlichkeit".
Zurück zu dem Buch, das ich - ausgeliehen und nicht zurückbekommen - mir antiquarisch wieder besorgt habe: Kurt Marti, Zärtlichkeit und Schmerz. Notizen, Hamburg/Zürich 1979.
Unter der Überschrift "Allmacht" schreibt er in der mir nun vorliegenden TB-Ausgabe von 1981 auf S. 67:
"Gott kann nicht einmal abdanken, d. h. einer Machtposition entsagen, weil er eine solche nie innegehabt hat. Soll das Wort ,Allmacht‘ jenseits plumper Potenz- und Omnipotenzprojektionen einen Sinn haben, dann am ehesten den, dass - eben - Gott nicht abdanken und auch nicht entmachtet werden kann. Wer ihm abspricht, was wir unter Macht zu verstehen pflegen, gleicht einem Menschen, der der Katze das Fliegen verbietet. Ein solches Verbot nimmt der Katze nichts von dem, was sie zur Katze macht. Sie bleibt, was sie ist. So auch Gott. Er hat sowenig Macht wie die Katze Flügel. Gott ist Liebe (1. Johannes 4,8.16). Dass er abgedankt haben oder dass man ihn entmachten könnte - das sind männliche Spiele, die nichts daran ändern werden, dass Gott ist, was er ist: Liebe, Zärtlichkeit, Schmerz."
In einer Welt der Erfolgreichen, der Supermänner und Superfrauen, der Winner und Loser, der Kollateralschäden und der Drohnenhändler - in einer gedrittelten oder geviertelten Welt klingen solche Gedanken absonderlich. Sie passen nicht (mehr) ins Bild.
Mehr und mehr sperren sich die kirchlichen Feiertage gegen die Wucht des Faktischen. Pfingsten ist längst an die Zweiturlaubs-Industrie verloren, Himmelfahrt an die Bier-Industrie, Advent an die Weihnachtsmänner und den Einzelhandel (das Einzige, dem ich wohlgesonnen bin), Weihnachten an die Familientraditionen (dem wäre ich weiß Gott auch gewogen, wenn es denn gelingende Beziehungen anstelle von Stress und Überdruss eher gehäuft gäbe), Ostern ist verloren an eierlegende Hasen, Versteckspiele und die cleveren Überraschungseier. Bleibt noch Karfreitag. Da hat sich noch kein Werbestratege verewigt.
Oder doch: Es scheint, die Passionstage seien "verloren" an Johann Sebastian Bach, die grandiosen Chöre und Solisten und - auch das darf man nicht kleinreden - an Paul Gerhardt, dessen Chöre in der Matthäus- oder Johannespassion immer noch zum Mitsingen anmuten. Ein musikalischer Rest von Verständlichkeit der Passion ist geblieben.
Diese Zumutung ist spätestens bei EG 81,3 oder EG 84,2 perdu. Dann doch eher, auch wenn die Melodie nicht so geläufig ist, EG 96 oder EG 97. Das ist die softe, erträgliche Variante dieser unerträglichen Passionsgeschichte, aus der die Evangelien einst erst entstanden sind. (Hatten doch zwischenzeitlich Generationen von Theologinnen und Theologen nach Martin Kähler behauptet, die Evangelien seien "Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung", urspr. 1892.)
Was nun?
Ich erinnere mich an eine Rundfunkhörerin, die mir in den 1980er-Jahren schrieb, von einem solchen Gott wolle sie nicht geliebt werden.
Wie geht die Generation der heute 25- bis 35-jährigen Kolleginnen und Kollegen mit diesem Skandal um?
Gelingt es ihnen, "Zärtlichkeit und Schmerz", "Allmacht und Ohnmacht", "Gott" und "Kreuzigung" so zu erzählen, dass
weder dem "bösen Römer",
noch dem "bösen Juden",
noch dem "bösen Gottesdienstbesucher"
und auch nicht dem "bösen Atheisten"
die Schuld zugewiesen wird?
Muss überhaupt Schuldzuweisung sein? Und wenn nicht, was wäre eine "alternative Passionsgeschichte" ohne Schuldzuweisung?
Für mich reduziert sich vieles in meinem Leben auf den Umgang mit Schuld. Mit eigener und fremder Schuld. Mit erlittener und zugefügter Schuld. Mit vergangener und gegenwärtiger Schuld. Vielleicht ist dieses Fragen und Verorten, das Abschieben und Verleugnen von Schuld ein "männliches Spiel" (Kurt Marti)? Vielleicht "typisch protestantisch". Ich weiß es nicht. Natürlich wollte ich es so nicht.
Mir stößt das zwei- oder mehrmals täglich gebetete "und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben ..." jedes Mal sauer auf. Wer ist mir und wem bin ich etwas schuldig geblieben? Ist das allen Ernstes die entscheidende Frage eines Christenmenschen? Haben wir nicht das Thema "Schuld" verdinglicht, benutzt, missbraucht?
Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, denke ich zum wievielten Mal darüber nach, ob ich nicht dem einen Menschen, dem ich Schuld an mir zuweise, vergeben, ihn einladen sollte? Ich habe - mitten im Schreiben des Editorials - diesen lange hinausgeschobenen Brief geschrieben und abgeschickt.
Mein neu gewählter Bundestagsabgeordneter und Freund gab den letzten Impuls. Er schreibt am 29. November:
"Vielleicht können wir heute einen Streit begraben, einem Menschen sagen, dass wir ihn lieben, einfach einem Fremden eine Geste? Es kann schnell vorbei sein."
Ich lasse mir das sagen.
Und lade jetzt den "Schuldigen" ein. Versprochen.
Mir ist ein anderer Satz von Kurt Marti in vielen Fragen ein Trost: "Gott? Jener Große, Verrückte, der noch immer an die Menschen glaubt." (a. a. O., S. 34)